Martin Hyun Botschafter für Integration & Vielfalt

Krefeld · Lebensgeschichten werden in der Regel chronologisch erzählt. Bei Martin Hyun geht das nicht so einfach. Zu viele prägende Erfahrungen hat der 45-jährige schon gesammelt, zu viele Professionen und Engagements vereint er, sodass seine Geschichte weniger in Zeitperioden als in Erfahrungswerten und deren Ergebnissen gezeichnet werden sollte. Widmen wir uns diesen Kapiteln.

ALS STÜRMER DER KREFELD PINGUINE BESTRITT MARTIN HYUN IN DER SAISON 2004/2005 ZAHLREICHE SPIELE IN DER DEUTSCHEN EISHOCKEYLIGA (DEL).BEIM BESUCH SEINER EHEMALIGEN WIRKUNGSSTÄTTE YAYLA ARENA WERDEN VIELE ERINNERUNGEN LEBENDIG.

Foto: RAB/Simon Erath

Wir treffen Martin Hyun in seiner ehemaligen Wirkungsstätte, der YAYLA ARENA an der Westparkstraße. Dort, im KEV-Profikader, beginnt 1996 eine Eishockey-Karriere, die ihn rund um den Globus führt. Der Interviewtreffpunkt, die hauseigene Loge, ist bewusst gewählt. Schließlich soll sich unser Gast, der mit seiner Frau seit über 10 Jahren in Berlin lebt, wohlfühlen. „Von hier oben auf das Eis zu schauen, ist schon ungewöhnlich“, bemerkt Martin Hyun, als wir in die abgedunkelte Eishalle schauen. „Als Spieler war ich noch nie hier oben.“ Beim späteren Hallenrundgang möchte er unbedingt noch einmal den Spielerbereich mit den Trainings-, Umkleide- und Aufenthaltsräumen besuchen. Sein eigentliches Habitat.

MARTIN HYUN ALS OLYMPISCHER FACKELLÄUFER BEI DEN OLYMPISCHEN UND PARALYMPISCHEN WINTERSPIELEN 2018 IN SÜDKOREA.

Foto: RAB/Simon Erath

KAPITEL 1: TRIKOTNUMMER „71“
„Mein Vater kam 1970 im Rahmen des Anwerbeabkom­ mens zwischen Südkorea und Deutschland hierher“, erzählt Hyun. „Meine Mutter folgte ein Jahr später. Das ist der Grund, warum ich die Trikotnummer 71 getragen habe.“ Mehrmals im Jahr kommt Martin Hyun nach Krefeld, besucht seine Eltern und seine Schwester, die in Fischeln wohnen. Dort ist er selbst am 4. Mai 1979 geboren. Bevor er in der Saison 1996/97 als 17-Jähriger und erster Spieler mit koreanischen Wurzeln in den KEV-Profikader wechselt, hat er sich bereits bei den KEV-Bambinis seine Sporen verdient. Im ersten Profispiel gegen die Duisburger Füchse erzielt der Stürmer gleich zwei Tore.

KAPITEL 2: FUSSTRITTE
Er sei in Fischeln sehr behütet aufgewachsen, erzählt Martin Hyun. „Den hohen Migrationsanteil in der Buchenschule empfand ich als Kind völlig normal. Nur vier oder fünf einheimische Kinder gingen dort zur Schule. Die meisten anderen kamen aus der Türkei.“ Über seine koreanischen Wurzeln macht sich Martin Hyun damals keine Gedanken, weder in der Schule noch beim Sport. Bis es zu zwei Zwischenfällen kommt, die sein Leben nachhaltig beeinflussen: „Es war an einem schönen Sommertag Anfang der 90er-Jahre. Da kam in Höhe der Sybille-Merian-Schule ein lautstark skandierender Mob mit Jugendlichen auf mich zu, hat mich umzingelt, einer rief: ‚Verpiss dich aus unserem Land!‘. Die Rettung war, dass mich ein Klassenkamerad erkannte und die anderen beruhigte. Es hat mich tief bewegt und mit der Frage zurückgelassen: Was ist da gerade passiert?“, erzählt er. Ein weiteres Ereignis, wenige Jahre später, hinterlässt – buchstäblich – tiefere Wunden. „Wir waren zu dritt abends in Duisburg unterwegs. Plötzlich hielt neben uns ein Micra mit drei muskelbepackten Typen. Einer schrie uns an: ‚Seid ihr Schlitzaugen?!‘“, erzählt Hyun. Er und ein anderer Freund werden zusammengeschlagen und getreten. „Ausgerechnet der von uns, der Kampfsportler war, entfernte sich schleunigst. Vielleicht war das gut so, ansonsten hätte es weiter eskalieren können. Der Abend endete für uns im Krankenhaus, das hat bittere Spuren hinterlassen.“

KAPITEL 3: ZURÜCK ZU DEN WURZELN
Zunächst widmet sich Martin Hyun seiner Ausbildung. Sechs Jahre lang studiert er in den USA am St. Michaels College in Vermont Politikwissenschaft und spielt erfolgreich in zahlreichen amerikanischen Eishockey-Teams. Danach führt ihn das Master-Studium nach Belgien. Sein Studium schließt er mit einer Integrationsthematik ab: Seine Doktorarbeit von 2018 behandelt „Koreanische Arbeitsmigranten in Deutschland“. „Mich interessierte unsere Familiengeschichte und meine koreanischen Wurzeln“, sagt Martin Hyun. „Also reiste ich 2002 längere Zeit nach Südkorea und ging auf Spurensuche. Mein Vater war dort 1939 geboren und hatte Elend, Tod und Hunger persönlich erfahren. Das alles wollte ich aufschreiben. Zunehmend bekam ich mehr Lust, Dinge zu recherchieren und zu beschreiben, in klarer Sprache, in kurzen Geschichten und gern mit einem gewissen Humor. Anfangs wurde ich belächelt.“

KAPITEL 4: SCHREIBEN
Das erste Buchprojekt, „Lautlos – ja, sprachlos – nein: Grenzgänger zwischen Deutschland und Korea“, das 2008 erscheint, überzeugt umso mehr. Aus einer Zufallsbegegnung mit dem bekannten russisch-deutschen Autor Wladimir Kaminer in Berlin entwickelt sich eine langjährige Freund- und Co-Autorenschaft. „Ich habe ihm einfach nach seiner Lesung meine Manuskripte in die Hand gedrückt“, schmunzelt Martin Hyun. „Der Ritterschlag erfolgte, als er mir kurz darauf sagte ‚Ich liebe deine Geschichten‘.“ Beide folgten 2010 einer Einladung des Goethe-Instituts und bereisten gemeinsam Südkorea für literarische Exkursionen. Drei weitere Buchprojekte hat Hyun bisher veröffentlicht: „Ohne Fleiß kein Reis – Wie ich ein guter Deutscher wurde“, „Gebrauchsanweisung für Südkorea“ und 2024 „Gebrauchsanweisung für Nachbarn“, ein Gemeinschaftsprojekt mit Kaminer, das sogar unter den Top-Ten der Spiegel-Bestseller-Sachbuchliste landete.

KAPITEL 5: OLYMPIA
2018 ist Südkorea Austragungsort der Olympischen Winterspiele und Paralympics. Für das aufstrebende Land ist es damals eine große Chance und eine immense Herausforderung zugleich. „Ausgerechnet ich, der zuvor niemals so ein Mega-Projekt gestemmt hatte, bekam 2015 die Einladung nach Zürich, um dort vor dem höchsten Leitungsgremium meine Befähigung als technischer Sportdirektor für den kompletten Eissport darzulegen“, berichtet Martin Hyun kopfschüttelnd. „Ich empfand es als höchste Ehre, dass das Land meiner Eltern mir dazu die Möglichkeit gegeben hat, und habe zugesagt. Später habe ich erfahren, dass der Eishockey-Weltverband schon bei der Vergabe der Spiele skeptisch war und Experten abgesagt hatten, weil so etwas noch nie in Südkorea stattgefunden hat. Oh Weh.“ Dann geht alles Schlag-auf-Schlag. Rund vier Wochen nach der Zusage des Leitungsgremiums zieht Hyun mit seiner Partnerin in eine Dienstwohnung in Südkorea – für die nächsten drei Jahre. „Alles musste neu erschaffen werden, vier Stadien mussten gebaut werden. Da ging es um kleinste Details. Welche Betonmischungen sind erforderlich? Was ist das beste Kühlsystem? Wie toppen wir die Anforderungen für Spielerkabinen bis hin zu sanitären Anlagen? Wo bekommen wir das dafür benötigte 400-köpfige Team her?“ Martin Hyuns Grundsatz damals: „Wenn die Athletinnen und Athleten aus allen Ländern der Welt nach Südkorea kommen, sollen sie denken, sie wären in Canada.“ Um diesen höchsten Anspruch gerecht zu werden, wird weltweit recherchiert. Eine aufregende Zeit, inklusive schlafloser Nächte, getragen von einer unglaublichen gemeinschaftlichen Energie. Die Spiele verschaffen Südkorea weltweite Aufmerksamkeit. Martin Hyun ist einer der olympischen Fackelträger.

KAPITEL 6: GEGEN RASSISMUS
Bis heute beschäftigt Martin Hyun das, was er als Jugendlicher erlebt hat. Der Rassismus, dem in Deutschland noch heute unzählige Menschen ausgesetzt sind. 2010 setzt er ein Zeichen und gründet die gemeinnützige Initiative „Hockey is Diversity“, die ihren Hauptsitz in Hyuns Wahlheimat Berlin hat. Der Verein setzt sich auf unterschiedlichste Weise gegen Rassismus und Diskriminierung ein, fördert Gleichberechtigung und Inklusion und verfolgt weitere caritative Zwecke. „Spieler sind Botschafter des Sports. Ich appelliere immer: ‚Ihr müsst schauen, was links und rechts um euch passiert. Euch geht es gut. Aber bitte schaut, wo wir andere unterstützen können‘. Jeder hat die Möglichkeit, mit kleinen Gesten, etwas Gutes zu bewirken.“ Schon jetzt schaut Marton Hyun wieder nach Krefeld. Denn hier will er, gemeinsam mit Sportlern und Weggefährten, bis zum 24. Dezember Geschenke für die kleinen Patienten der Helios-Kinderklinik sammeln. Viele Kinder erleben die Weihnachtszeit im Krankenhaus – teils mit erschütternden Diagnosen. „Es berührt mich jedes Jahr zutiefst, zu erleben, wie wir dank der großzügigen Unterstützung unserer Fördermitglieder und Unterstützer den Kindern im Helios Kinderklinikum so viel Freude schenken können. Mit langjährigen Verbündeten und neuen Freunden schaffen wir für sie Momente, die unvergesslich sind“, sagt Hyun.

Wir hoffen auf eine erfolgreiche Fortsetzung dieser spannenden und respektablen Lebensgeschichte.