Stefan Rademacher Saitensprung ohne Reue
Krefeld · Schon im Bauch der Mutter machte sich Stefan Rademacher mit auffallend rhythmischen Klopfzeichen bemerkbar. Für die Kinderärztin stand fest: „Der wird Musiker.“ Seine eigene Theorie: „Nicht die Gene sind ausschlaggebend. Schon im Mutterleib nehmen wir die Außenwelt über akustische Signale wahr. Und die prägen einen.“
Das klingt plausibel. Denn sein Vater, Mitbegründer des ersten Krefelder Jazzkellers, war passionierter Schlagzeuger. Rhythmik war im Elternhaus immer da. Musik war fortan lebensbegleitend. Rademacher lernte als Kind autodidaktisch Schlagzeug und Gitarre, spielte als Jugendlicher in ersten Bands, auf Partys und an seiner Schule, dem Fichte-Gymnasium, wo er 1980 sein Abitur machte. Ein stetiger Lebensweg als Musiker schien vorgezeichnet. Doch weltweite Tourneen, Sessions und Studio-Produktionen mit internationalen Jazz-Größen, Lehraufträge an renommierten Hochschulen, Engagements als Gastsolist bei der WDR Big Band und den Essener Symphonikern sowie sein Herzprojekt, die „jazzattack“ im Krefelder Jazzkeller, wären beinahe nicht zustande gekommen. Ausgerechnet die Warnung seines Musiklehrers führte ihn zunächst auf eine andere, bodenständige und von Vernunft getragene Seite – nämlich zum Medizinstudium. Ein Doktor Rademacher schien in greifbarer Nähe.
DAS INTERVIEW
Stefan, wie kam es zu dieser Entwicklung, dass wir uns heute im Krefelder Jazzkeller treffen und nicht in einer Arztpraxis oder einem Krankenhaus? Stefan Rademacher: (lacht) Ich hätte auch in die Medizin gehen können, aber ich bezweifele, dass ich dabei so viel Leidenschaft hätte aufbringen können wie in der Musik. Einen großen Einfluss hatte damals Balasz Horvarth, ein engagierter Jazz- und Soulmusiker, der mich an der Krefelder Musikschule Mitte der 70er Jahre am Akkordeon unterrichte. Er hatte ein Bandprojekt namens Studio 75, wo ich zunächst als Perkussionist die Congas und später Akkordeon spielte. Als der Bassist ausstieg, meinte Horvarth „Du lernst schnell, also spiel` du doch den Bass“. Das habe ich dann gemacht und sehr bald eine Liebe zu diesem Instrument entwickelt. Mein Vorbild war der amerikanische Bassist Jaco Pastorius, der mich mit seinem Sound total angefixt hatte.
Aber dann lief doch auf der musikalischen Spur alles richtig? Stefan Rademacher: (schmunzelt) Nun ja, wären da nicht die Warnungen gewesen: „Mach` das nicht. Werde kein Musiker. Das hat keine Zukunft.“ Nach dem Abi machte ich erst mal Zivildienst und ging direkt im Anschluss nach Düsseldorf um Medizin zu studieren. Während der Semester habe ich den Bass nicht angerührt, das Studium ließ einfach keine Zeit dafür. In den Semesterferien aber habe ich ständig gespielt, und die Kontakte zur Düsseldorfer Musikszene wurden immer intensiver. Dann zog ich in eine WG mit dem Gitarristen Axel Fischbacher und war plötzlich Musiker. So hat sich das angefühlt. Damals gab es eine super lebendige Jazz-Szene und viele Spielstätten. In Düsseldorf traten wir mehrmals pro Woche auf, vor allem im Jazzclub „Downtown“ – dort für sage und schreibe 30 DM pro Kopf (lacht). Es folgten große Touren mit dem Pianisten Christoph Spendel, auch international, dann Schallplattenaufnahmen. Das ging natürlich nur mit entsprechenden Urlaubssemestern. Für mich innerlich ein echter Konflikt, ständig zwischen zwei Seiten zu schwanken.
Dann ist der Funke in Kanada endgültig übergesprungen?
Stefan Rademacher: Das kann man so sagen. Ich hatte das Glück, dass unsere Band-Bewerbung angenommen wurde. Und so konnten wir mit unserer Axel Fischbacher Group zu dritt am vierwöchigen Jazz-Workshop in Banff teilnehmen. Inmitten von 900 Studenten aus der ganzen Welt nahmen wir an hochkarätigen Meisterkursen teil. Und das an der renommierten Banff School of Fine Arts. Unter den Dozenten waren absolute Top-Musiker wie Dave Holland, David Liebmann, Kenny Wheeler und Steve Colman. Das hat mich komplett umgehauen. Mein erstes Reinschnuppern in die internationale Jazz-Szene.
Und doch hat es ein Jahr gedauert, bis die Entscheidung zum Profimusiker endgültig war? Stefan Rademacher: Ja, fast zeitgleich war ich für zwei Monate in Sri Lanka, um mich intensiver mit Akupunktur zu beschäftigen. Durch die tieferen Einblicke betrachtete ich auf einmal die hiesige Schulmedizin kritischer und entfernte mich innerlich ein Stück weit. Gleichzeitig sagten mir immer mehr Leute: „Du musst Musiker werden, du darfst dein Talent nicht verschenken.“ Das alles wirkte wie ein Verstärker, und so entschied ich mich endgültig dafür, professionell Musik zu machen.
Dann ging es Schlag-auf-Schlag weiter. Mit verschiedenen Stationen über Düsseldorf, Köln, München und Spanien ... Stefan Rademacher: Ja, es war eine turbulente Entwicklung. Ich habe damals mit Chaka Khan, Lenny Castro, Michał Urbaniak, Annie Whitehead, Eddie Harris und Pete York gearbeitet. Mit der Band Norbert Gottschalk & Friends wurde uns 1988 der Preis der deutschen Schallplattenkritik verliehen. Ich hatte das große Glück, bei der Schweizer TV-Produktion „Jazz-in-Concert“ mit Lee Ritenour, Don Grusin und Tom Brechtlein zu spielen und dadurch auch international bekannter zu werden. Und dann holte mich Billy Cobham in seine Band, mit der ich von 1994 bis 2007 weltweite tourte und fünf Alben aufnahm.
Und dann kam der Schritt zurück nach Krefeld ... ? Stefan Rademacher: Nach meiner Zeit Düsseldorf habe ich erst einmal zwei Jahre in Köln gelebt und bin dann nach Krefeld zurückgekehrt. Das war aber schon Mitte der 90er-Jahre.
1997 hast du gemeinsam mit Axel Fischbacher dein großes Herzensprojekt, die Veranstaltungsreihe „jazz attack“, gegründet, die seit 27 Jahren allmonatlich Musiker aus aller Welt nach Krefeld in den Jazzkeller lockt. Wie kam es dazu? Stefan Rademacher: Der Jazzkeller in der Lohstraße siechte damals förmlich vor sich hin. Dort traf man sich allenfalls zum Schachspielen, und einmal im Monat trat eine Bluesband auf – ansonsten war nicht viel los. So kam ich auf die Idee, dort unsere regelmäßigen Konzerte, die wir im Düsseldorfer Downtown gegeben hatten, wieder aufzunehmen. So entstand die „jazzattack“. Wir wollten vor allem Schüler und generell jüngere Besucher erreichen, spielten also regelmäßig, nahmen keinen Eintritt, und der Keller war proppenvoll. Nur leider nicht in erster Linie wegen uns, sondern es etablierte sich quasi ein Jugendtreffpunkt zum Quatschen, Spielen und Trinken. (schmunzelt). Dann haben wir eine drastische Preiserhöhung auf 3 D-Mark durchgesetzt. Die Schüler kamen dann nicht mehr, dafür ein anderes Publikum, das wirklich Musik hören wollte.
Wie entstand der Name?
Stefan Rademacher: Der Schlagzeuger Andy Pilger, ein langjähriger musikalischer Weggefährte, meinte, das Ding muss ungewöhnlich klingen, experimentell, irgendwie energetisch, und schlug spontan den Namen „jazzattack“ vor.
Was macht den besonderen Reiz der „jazzattack“ aus? Stefan Rademacher: Jedes Konzert ist einzigartig, ein Unikat und nicht reproduzierbar. Wir sprechen Musiker an, die meist noch nie miteinander gespielt haben. Es wird nicht geprobt. Wir spielen nur unmittelbar vor dem Konzert die Themen kurz an. Jeder bringt seine musikalische Welt mit und das auf höchstem Niveau. Das ist mega spannend für das Publikum, das diese Energie auch merklich spürt. Und für uns Musiker heißt es, die Ohren maximal aufzumachen. Es ist eine spontane Unterhaltung mit Instrumenten. Der Inbegriff von LIVE. Bei Neulingen und Jazz-Interessierten springt der Funke am ehesten bei Live-Konzerten über, weniger über Tonträger. Die Atmosphäre im Jazzkeller ist authentisch, die Bühne in greifbarer Nähe. Das begeistert auch uns Musiker. Krefeld hat mit dem Jazzkeller und dem Jazzklub Krefeld, die als Veranstalter die “jazzattack“ tragen, wahre Perlen, die zurecht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Dafür kann man dem Betreiber Bernard Bosil und dem Jazzklub gar nicht genug danken.
Du bekamst eine zeitlang sogar ‚Kirchen-Asyl‘? Stefan Rademacher: (lacht) Ja, das haben wir Joachim Watzlawik zu verdanken. Er half uns vor etlichen Jahren, als der Jazzkeller aus wirtschaftlichen Gründen unsere Reihe nicht fortsetzen konnte. Joachim baute damals als Sozialarbeiter ein Gemeindezentrum an der Friedenskirche auf und bot uns die neu entstandenen Räumlichkeiten für unsere Konzerte an. Daraus entwickelte sich später übrigens das beliebte Format „Kultur.Punkt“.
Gab es weitere Berührungspunkte mit der Krefelder Kulturszene? Stefan Rademacher: Ja, 2011 hatten die Bildhauerinnen Doris Kaiser und Brigitta Heidtmann und ich die Idee, für Krefeld ein Kulturportal zu erstellen, mit dem Ziel, das Kulturgeschehen der Stadt sichtbar zu machen. Gebündelt, spartenübergreifend und zeitgemäß. Dafür gründeten wir den Verein „Kultur-in-Krefeld“ und haben das Internetportal kultur-in-krefeld.de aufgebaut. Mittlerweile wird das Portal von neuen, sehr kreativen Leuten weitergeführt und weiterentwickelt, worüber ich mich sehr freue.
Zurück zur Musik: Hast du Lampenfieber oder gar Rituale vor Auftritten? Stefan Rademacher: Gottseidank habe ich kaum Lampenfieber, eher eine konzentrierte Anspannung. In Stressmomenten hilft mir autogenes Training, das mich wieder herunterbringt. Vor Auftritten spiele ich mich rund 15 Minuten warm – möglichst zurückgezogen, um mich auch innerlich auf das Konzert vorzubereiten.
Wo trifft man Stefan Rademacher außerhalb von Bühnenauftritten? Stefan Rademacher: In Köln, wo ich derzeit lebe. Anfangs der Woche allerdings zumeist in der Schweiz. Seit 1995 unterrichte ich an der Hochschule der Künste in Bern. Und an der Folkwang-Uni in Essen; da habe ich einen Lehrauftrag. Ich unterrichte wirklich gerne, es inspiriert mich immer wieder neu. Man sieht mich auch in Krefeld, zum Beispiel in meinem Lieblingswald, dem Forstwald, im Kosmopolit (mein früheres „Wohnzimmer“… ) oder im kleinen Café auf der Tannenstraße.
Wie verbringt Stefan Rademacher seine Freizeit?
Stefan Rademacher: Ich muss jeden Tag raus an die frische Luft: spazieren gehen, wandern, Rad fahren, mich bewegen. Das macht mir Spaß. Außerdem bessere ich gerade mein Spanisch auf, da es uns immer wieder zu Freunden auf die Lieblingsinsel zieht.
Hast du den beruflichen Seitenwechsel jemals bereut? Stefan Rademacher: (sehr spontan) Nein, auf keinen Fall! Musik ist meine absolute Leidenschaft – die Freiheit, auf der Bühne auszudrücken, was mich emotional bewegt, auf endlos viele Arten und Weisen. Genau das macht Jazz letztendlich für mich aus.
Danke für das interessante Gespräch und die Einblicke.