Interview mit GMD Mihkel Kütson Wie formt man Klang?

Krefeld · Das Wort Komposition trifft in keinem musikalischen Genre so den Kern der eigenen Bedeutung wie in der Klassik. Ein Sinfonieorchester besteht aus mindestens 50 Musikerinnen und Musikern, aufgeteilt in circa 14 Instrumentengruppen mit je eigener Melodieführung. Damit auf der Bühne aus diesen einzelnen klanglichen Charakteren ein ausgewogenes Gesamtkunstwerk entstehen kann, braucht es einen Dirigenten oder eine Dirigentin. Aber was genau passiert da eigentlich, beim Dirigieren? Wie vermittelt man einen Klang ohne Worte? Mihkel Kütson erklärt, wie aus den Noten der Partitur eine Live-Darbietung auf der Bühne wird.

Mihkel Kütson. Foto: Julian Scherer

Foto: vertäll

Der Dirigentenjob wird gerne mal auf das „Wedeln mit dem Taktstock“ heruntergebrochen. Wer Sie einmal live gesehen hat, merkt schnell: Es ist mehr als das. Sie kommunizieren über Mimik, Körpersprache, sogar über Ihre Atmung …
Beim Dirigieren geht es um Kommunikation und um eine Bündelung von Energien. In den Proben und während der Aufführung. Als Dirigent wird man zum energetischen Mittelpunkt, der die gemeinsame musikalische Leistung abruft. Der Taktstock ist dabei ein Arbeitsmittel. Mittlerweile gibt es viele Dirigentinnen und Dirigenten, die ihn gar nicht mehr benutzen …

Gibt es eine allgemein bekannte „Dirigentensprache“ oder kommuniziert jeder anders?
Es gibt schon eine Art Grundrepertoire an Bewegungen, sodass die Musiker auch aus dem Augenwinkel heraus jederzeit erkennen können, wo wir uns in der Partitur befinden.

Wenn man zum ersten Mal in ein Sinfoniekonzert von Ihnen kommt und versucht, diese Kommunikation nachzuvollziehen, gibt es bestimmte Bewegungen, die man sich schon mal einprägen kann?
Ich glaube, die allerwichtigste Bewegung für einen Dirigenten ist der Auftakt. Also die einleitende Bewegung, bevor ein Ton erklingt.

Also sowas? (Ich hebe beide Hände parallel in die Höhe)
Genau. Und in dieser Bewegung muss die ganze Information erhalten sein, wie die folgende Phrase klingen soll. Also das Tempo, die Lautstärke, die Qualität des Tons – das heißt, ob es ein harter, weicher, runder oder flacher Ton sein soll. Auf dieser Bewegung gründet das ganze Musizieren des Orchesters mit dem Dirigenten. Ein Einatmen kann diesen Moment unterstreichen. Eigentlich ist der Prozess des Dirigierens eine Verkettung von Auftakten. Immer anzuzeigen, was als Nächstes kommt.

Neben dem eben erwähnten Grundrepertoire ist Ihr Dirigat ja individuell. Das heißt: Orchester und Dirigent müssen einander erst lesen lernen. Wie lange dauert das?
Wenn ein Dirigent eine gute Dirigiertechnik hat und seine musikalischen Ideen gut übertragen kann, braucht es eigentlich nicht lange, aber sich vollkommen aufeinander einzustellen, ist ein dauerhafter Prozess. Als Gastdirigent für ein einzelnes Konzert ist diese Zeit natürlich sehr begrenzt – fünf oder sechs Proben –, meistens findet man dann aber auch schnell eine gemeinsame Sprache.

Wenn so wenig Zeit ist, schauen Sie sich zur Vorbereitung zum Beispiel Aufzeichnungen des Orchesters an?
Nein. Man kann die eigene Beziehung zum Orchester nicht davon ableiten, wie es auf einen anderen Dirigenten reagiert. Das sind ja lebendige Organismen (lacht), Menschen, die individuell auf das reagieren, was sie sehen, was sie spüren, was sie erfahren. Als Dirigent muss man selber erspüren, wo das Orchester gerade steht. Wie ist das Arbeitsklima? Hat kürzlich ein anstrengendes Konzert stattgefunden? Ist es Montagmorgen? Auch banale Dinge können manchmal Einfluss nehmen.

Mit dem Orchester kommunizieren Sie auch auf der Bühne intensiv, Sie sind ihm zugewandt. Wie ist das mit Solisten? Die müssen ins Gesamtkonzept passen, werden aber oft ganz vorne auf der Bühne platziert – manchmal so, dass sie nur Ihren Rücken sehen.
Ein Solist hat sich lange mit dem Stück beschäftigt, bis es zur Aufführung kommt und bringt eigene Vorstellungen mit, wie er bestimmte Passagen oder Sätze spielen möchte. Während der Proben verständigt man sich auf eine gemeinsame Umsetzung. Im besten Fall ist es eine geistige Einheit, damit man ein sehr gutes Konzert erreicht. Auch wenn ich dem Solisten den Rücken zugewandt habe, sind meine Ohren aber überall (lacht). Durch die langjährige Erfahrung weiß man, wer wem gerade folgt. Es ist manchmal ein regelrechtes Katz-und-Maus-Spiel – und meine Aufgabe als Dirigent ist es dann, alles zusammenzuhalten.

Welche Rolle spielt die Geschichte, der Charakter, die Biografie des Komponisten für Ihre Interpretation eines Werkes?
Natürlich spielt es eine große Rolle, unter welchen Umständeneine Komposition entstanden ist – sich damit intensiv zu beschäftigen, bringt viele Anregungen und Ideen für die musikalische Umsetzung, die im Einklang mit der Intention des Komponisten stehen sollte. Außerdem haben verschiedene Epochen eine andere Spielart: Ein barockes Stück wird anders gespielt als die Werke von Komponisten der Romantik. Dies alles beeinflusst die Interpretation maßgeblich.

Haben Sie Vorlieben? Gibt es bestimmte klangliche oder auch inhaltliche Themen, die Sie besonders gerne vermitteln?
Jede Epoche, jeder Stil hat Seiten, die ich mag und mit denen ich mich gerne beschäftige. Unser Orchester ist sehr flexibel, was ist die stilistische Vielfalt angeht. Thematisch ist es immer wieder interessant, Bezug auf die Gegenwart zu nehmen, um am Puls der Zeit zu bleiben. Kunst und Kultur sind ja dafür da, das aktuelle Weltbild zu spiegeln und mit künstlerischen Mitteln darzustellen. In der letzten Spielzeit zum Beispiel gab es ein politisch aufgeladenes Programm mit drei Komponisten, die unter repressiven Regimes gelitten haben und trotzdem kreativ geblieben sind: Wir hatten Schostakowitschs zwölfte Sinfonie über die Oktoberrevolution in Russland, das Trompetenkonzert des Komponisten Oskar Böhme, der nach der Oktoberrevolution in Russland hingerichtet wurde, und Viktor Ullmanns Ouvertüre Don Quixote tanzt Fandango. Ullmann ist in Theresienstadt umgekommen. Schostakowitsch hat zu seinem eigenen Schutz untereinem Deckmantel komponiert, man erkennt eine Mehrdeutigkeit in seiner Musik. Solche Reibungspunkte sind natürlich sehr spannend.

Gibt es bei der Interpretation musikalischer Werke ein Richtig und Falsch?
Man muss eine Haltung dazu entwickeln, eine Bestätigung für diese Haltung in der Musik finden und das dann durch die Klangfarben, durch die Wahl der Tempi und so weiter herausarbeiten. Da kann man nicht sagen, ob es richtig oder falsch ist. Das kann jeder für sich selbst erspüren. Man kann aber natürlich eine Meinung oder einen Geschmack haben.

Entwickeln Sie diese Haltung allein oder mit dem Orchester gemeinsam?
Es muss gemeinsam passieren, weil ein Taktstock eigentlich nur die Luft bewegt. Ich kann nur ermutigen, einladen, überzeugen, um den Klang zu bekommen, den ich aus der Partitur herausgelesen habe. Was die Musiker mir anbieten, muss nicht immer eins zu eins sein, was ich mir vorgestellt habe. Ich versuche natürlich, meine Erkenntnisse so zu vermitteln, dass sie auch dem Orchester als einzig mögliche Variante erscheinen (lacht).

Das klingt sehr pädagogisch. Das Klischee eines Dirigenten wird ja immer sehr hierarchisch gezeichnet.
Ich glaube, diese alles von oben nach unten durchregierende Art stirbt aus und ist nicht nachhaltig. Die Orchestermusiker sind alle umfassend ausgebildete Spezialisten auf ihren Instrumenten und haben ein jahrelanges Studium absolviert. Schon aus diesem Grund sollte man auf Augenhöhe kommunizieren. Dennoch wird aufgrund der Zeiteffizienz im Probenprozess eine gewisse Hierarchie im Orchester immer bleiben. Ich möchte kein Lehrer sein, der ihnen beibringt, wie man dies und das spielt. Ich kann sie nur einladen, nach meiner Pfeife zu tanzen (lacht).

Was ist für Sie mehr Arbeit – sich das Stück selbst zu erschließen oder es zu vermitteln?
Das Stück zu erarbeiten ist zwar sehr interessant, aber mühsam – eine zeitraubende Schreibtischarbeit. Das Einstudieren mit dem Orchester geht wesentlich schneller.

Ich habe gelesen, dass Sie schon über 70 Werke dirigiert haben, sind die alle noch in Ihrem Gedächtnis gespeichert?
Die 70 sind nur die Musiktheaterwerke. Dazu kommen Hunderte von Konzertwerken. Ich habe aufgegeben, die zu zählen, es sind wirklich viele. Die habe ich nicht alle im Kopf gespeichert. Man muss auch nicht alles auswendig können. Manchmal merke ich aber, dass mein Körper sich an die Werke erinnert, also eine Art Muskelgedächtnis – zum Beispiel, wenn ich ein Stück nach einer Weile zum zweiten Mal dirigiere – und das kommt immer öfter vor, wenn man älter wird (lacht).

Letzte Frage: Sie tragen auf der Bühne einen schwarzen Frack, das Orchester schwarze Abendkleidung. Warum?
Zum Teil als historisches Erbe – festliche Abendkleidung zum besonderen Anlass – zum anderen als optische Übersetzung des griechischen Wortes ‚symphonía‘, das so etwas wie Zusammenklang oder Harmonie bedeutet.

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