Heike Schätze Volle Kraft für UNS

Krefeld · Die Nachbarschaft Samtweberei gehört zu den Vorzeigeprojekten der Krefelder Innenstadt und steht beispielhaft für die Möglichkeiten urbanen Zusammenlebens.

„Wir können hier unabhängig arbeiten und die Welt ein kleines Stückchen besser machen.“ Heike Schätze

Foto: RAB/Simon Erath

Die ehemalige Textilfabrik, Baujahr 1889/90, samt zweier jüngerer Anbauten stand einige Jahre leer und reihte sich damit in ein bis heute einprägsames Bild der Südstadt als „Problemzone“ ein. Als die Montag Stiftung für Urbane Räume den Komplex 2014 zu ihrem Pionierprojekt machte, begann damit eine Erfolgsgeschichte, deren 10-jähriges Jubiläum Anfang September ausgiebig gefeiert wurde.

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HEIKE SCHÄTZE IST SEIT 2022 GESCHÄFTSFÜHRERIN DER URBANEN NACHBARSCHAFT SAMTWEBEREI GGMBH – VORHER KANNTE MAN DIE GEBÜRTIGE DUISBURGERIN UNTER ANDEREM AUS DER KUFA, WO SIE VIELE JAHRE IM LEITUNGSTEAM TÄTIG WAR.

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DAS PROJEKT URBANE NACHBARSCHAFT SAMTWEBEREI GEWANN 2016 DEN POLIS AWARD FÜR SOZIALE QUARTIERSENTWICKLUNG SOWIE DEN NRW LANDESPREIS FÜR ARCHITEKTUR, WOHNUNGS- UND STÄDTEBAU“ IM JAHR 2017

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In 37 Wohneinheiten und 30 Büroräumlichkeiten unterschiedlicher Größe leben und arbeiten hier die unterschiedlichsten Menschen – jung und alt, mit und ohne Migrationshintergrund, abhängig und unabhängig von Sozialhilfe, kreativ, aktiv und gemeinschaftsbewusst. Durch gemeinnützig eingesetzte „Viertel-Stunden“ können Mieterinnen und Mieter ihre monatlichen Mietbeiträge reduzieren. So werden beispielsweise der wöchentliche Suppentag oder die Produktion des aktuell jährlich erscheinenden Samtweber Magazins durch den Einsatz von Viertel-Stunden ermöglicht.

Neben den Wohn- und Arbeitseinheiten stehen den Be- und Anwohnenden der denkmalgeschützten Samtweberei ein begrünter Innenhof und die große Shedhalle mit Sportplatz, ein Gemeinschaftsgarten und das Nachbarschaftszimmer zum Aufenthalt und für Veranstaltungen zur Verfügung. Das Nachbarschaftszimmer dient unter anderem für Sportgruppen, Südstadtchor oder den Suppentag und wird einmal wöchentlich zum „Welcome Point“ für ukrainische Geflüchtete. Eine „Gift-Box“ zum Tauschen von Büchern, Kleidung und anderen nützlichen Dingen, wird viel und gern genutzt – sowohl von denen, die geben, als auch von denen, die etwas brauchen.

Inzwischen liegen die Geschicke der Samtweberei längst nicht mehr in den Händen der Montag Stiftung, sondern sind nach erfolgreicher Anschubphase an die Urbane Nachbarschaft Samtweberei gGmbH – kurz UNS – übergegangen, die sich um Verwaltung und Entwicklung des Projekts kümmert. Neben Buchhaltung und Objektpflege braucht es jedoch noch eine entscheidende weitere Zutat, um ein Projekt wie die Nachbarschaft Samtweberei am Laufen zu halten: Menschlichkeit.

Heike Schätze ist seit zwei Jahren Geschäftsführerin der UNS. Man trifft sie überall, in ihrem Pionierhaus-Büro ebenso wie beim Suppentag im Nachbarschaftszimmer. Mit empathischer Offenheit und einem Lächeln im Gesicht begegnet sie hier tagtäglich den verschiedenen Charakteren der Samtweberei. Wir wollten von ihr wissen, wie ein Projekt der Vielen gelingen kann.

VERTÄLL: DU MUSST FÜR DEINEN JOB EIN ZIEMLICHES CHAMÄLEON SEIN. HAUSMUTTI, SEELSORGERIN, ANPACKERIN, ABER AUCH BÜRO­ KRAFT UND ORGANISATORIN. WIE HAT DEIN BISHERIGER LEBENSWEG DICH DARAUF VORBEREITET? HS: „Während meines Bachelors in Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Uni habe ich im Hundertmeister Duisburg angefangen und mich in sieben Jahren von der Kellnerin bis zur Assistenz des Geschäftsführers hochgearbeitet. So bin mit dem Kulturbereich in Berührung gekommen. Nach diesen sieben Jahren haben sich unsere Wege getrennt, und ich habe erst mal bei McDonalds am Duisburger Hauptbahnhof angefangen. Dort bin ich fast drei Jahre geblieben – und das hat mich Demut gelehrt. Seitdem weiß ich, wie schwer Menschen teilweise für ihr Geld arbeiten gehen. Ich habe dann eine Ausschreibung der KuFa gefunden: Das war die Chance, wieder glücklich mit dem Inhalt meiner Arbeit zu sein – zurück zur Kultur. Ich konnte mich zur Vollzeit-Assistenz des Vorstands und Büroleitung hocharbeiten. Eine der Pionierinnen, die hier seit einigen Jahren arbeitet, hat mich dann vor zweieinhalb Jahren auf die Stelle der Geschäftsführung für die Urbane Nachbarschaft Samtweberei aufmerksam gemacht. Da wurde ich genommen – und jetzt sitzen wir hier (lacht).“

WELCHEN TEIL DEINER ARBEIT HIER MAGST DU AM LIEBSTEN? „Das ist schwer zu sagen. Ich mag es, wenn mein Job nicht eintönig ist. Meine Tage können durchaus so aussehen, dass ich morgens Klopapier verteile und Mülleimer leermache und nachmittags an einer Geschäftsführerrunde teilnehme. Es ist schön, nicht immer das Gleiche zu machen – und ich mag es dafür zu sorgen, dass hier alles zusammenspielt. Ich habe jede Möglichkeit, mich einzubringen und kann sehr eng mit der NachbarschaftStiftung in Person von Pierre Schweda zusammenarbeiten, um die Gemeinwohlarbeit zu pflegen. So schaffen wir viele Angebote für die Leute hier.“

DU ERWÄHNST DIE NACHBARSCHAFTSTIFTUNG: TATSÄCHLICH WIRD DIE VON AUSSENSTEHENDEN GANZ GERNE MIT EUCH, DER UNS, VERWECHSELT. WER IST WOFÜR ZUSTÄNDIG? „Wir, die UNS, erwirtschaften durch die Mieteinnahmen des Projekts Überschüsse, die die Stiftung als Partner vor Ort dann in die Gemeinwohlarbeit stecken kann.“

ZU BESONDEREN ANLÄSSEN WIE DEM REGELMÄSSIG STATTFINDENDEN VINTAGE & DESIGN-MAAT FÜLLEN SICH SHEDHALLE UND INNENHOF MIT LEBEN.

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GEMEINSAM MIT FRANZISKA KÖNIG-KARL, DIE FÜR HAUSVERWALTUNG UND BÜROMANAGEMENT ZUSTÄNDIG IST, ORGANISIERT HEIKE SCHÄTZE DIE GESCHICKE DER UNS. SEIT EINIGEN MONATEN WERDEN SIE ZUDEM UNTERSTÜTZT VON BÜRO- HÜNDIN WILMA, DIE HATTE AM TAG UNSERES BESUCHS ABER FREI.

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WAS GEFÄLLT DIR AM QUARTIER, DAS IHR HIER GESCHAFFEN HABT UND WEITERENTWICKELT? „Ich habe den Eindruck, dass wir das Viertel ein Stück weit besser machen. Ich wohne auch in der Südstadt und bekomme viel mit vom Leben, das sich hier abspielt. Es ist nach wie vor ein schwieriges Pflaster. Ich finde den Müll auf den Straßen schlimm, ich hasse den Lärm, aber auf der anderen Seite haben wir hier eine riesige Brache zu einem Mehrwert machen können, der seine Kontinuität bewiesen hat. Wir können hier unabhängig arbeiten und die Welt ein kleines Stückchen besser machen. Natürlich habe ich keine weit in die Vergangenheit reichenden Erfahrungen, ich wohne erst seit 2016 in Krefeld. Aber ich höre immer wieder, dass sich das Viertel durch dieses Projekt positiv entwickelt hat und es ein Anstoß für andere war, selbst auch zur Aufwertung der Nachbarschaft beizutragen. Zum Beispiel durch das Fassadenprogramm oder Kleinkunstprojekte in Kooperation mit der FH.“

DIE NACHBARSCHAFT SAMTWEBEREI IST JA EIN RICHTIGES VORBILDPROJEKT, ES WAR EIN SEHR FRÜHES BEISPIEL FÜR SOZIOKULTURELL AUSGERICHTETE REVITALISIERUNGSMASSNAHMEN… „Wir haben tatsächlich Vorbildcharakter. Das hier war das erste Projekt der Montag Stiftung Urbane Räume. Inzwischen gibt es weitere Projekte der Stiftung, zum Beispiel in Remscheid und Wuppertal. Wir haben sogar Preise gewonnen, zum Beispiel den Polis Award. Es kommen oft Anfragen rein von Institutionen, die sich unser Beispiel gerne anschauen möchten, sogar regelmäßig aus Japan, denn dort ist generationsübergreifendes Wohnen ein großes Thema, und bei uns funktioniert das sehr gut.“

DAS HIER IST DURCH UND DURCH EIN GEMEINSCHAFTSPROJEKT. VIELES, ZUM BEISPIEL DIE AUFENTHALTSFLÄCHEN, WIRD GETEILT. WIESO FUNKTIONIERT DAS BEI EUCH? WAS MACHT IHR RICHTIG? „Wir geben uns als Vermieter wirklich Mühe. Und das macht sich bemerkbar. Wir sind greifbar und bringen eine gewisse Flexibilität mit, um auf die Bedürfnisse eingehen zu können, die an uns herangetragen werden. Es wird in der Regel alles demokratisch geregelt. Wenn es Konflikte zwischen zwei Parteien gibt, regen wir erst mal zum Austausch zwischen den beiden an. Wir sind in mediativer Moderation geschult, das hilft in solchen Fällen sehr. Dadurch haben wir das Handwerkszeug, gute klärende Gespräche einzuleiten. Nur im schlimmsten Fall, oder wenn gesetzliche Regelungen missachtet werden, mischen wir uns wirklich ein.“

DAS QUARTIER HIER IST JA NICHT NUR ALTERSMÄSSIG, SONDERN AUCH SOZIAL UND ETHNISCH SEHR DURCHMISCHT. WIE FUNKTIONIEREN AUSTAUSCH UND INKLUSION? „Mein Eindruck ist, dass es gut funktioniert. Was ich super finde, ist, dass ein Drittel unserer 37 Wohneinheiten nur mit Wohnberechtigungsschein bewohnbar ist. Es wurde so eingerichtet, dass sich diese Wohnungen im gesamten Komplex verstreut befinden und genau die gleiche Ausstattung haben wie die anderen Wohnungen. So findet keine „Ghettoisierung“ oder Stigmatisierung innerhalb des Hauses statt. Es gibt Leute mit und ohne Migrationshintergrund, die schon lange hier leben und arbeiten und sehr vernetzt sind. Dann gibt es solche, die gerade noch Anschluss suchen und hier Anknüpfungspunkte finden. Für sie haben wir verschiedene Angebote wie die „Gift-Box“ oder den Welcome Point für Geflüchtete aus der Ukraine. Auch dadurch haben wir hier ständig Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Situation.“

AUCH IHR KÄMPFT ALS ÖFFENTLICHER ORT MIT VANDALISMUS, LAUTSTÄRKE, MÜLL. WIE GEHT IHR DAMIT UM? „Tja. Das nervt natürlich. Aber: Wir sind nun mal ein öffentlicher Raum mitten in der Stadt und haben Jahre dafür gearbeitet, so ein Ort zu werden. Diesen Zustand wollen wir unbedingt erhalten – auch wenn hier mal der ein oder andere Jugendliche über die Stränge schlägt. Jetzt gerade sind Ferien, da ist Ruhe (lacht). Aber in der Schulzeit gibt es bestimmte Schülerinnen und Schüler, die seltsamerweise immer ganz viele Freistunden haben (lacht). Es ist eine Mischung aus Akzeptanz und Kommunikation nötig. Wir sprechen ganz offen mit den Jugendlichen, versuchen, sie nicht zu verjagen, sondern ihnen zu erklären, warum das, was sie tun, nicht cool ist. Und wir versuchen, durch Kooperation und Gespräche mit dem Mobifanten und Jugendstreetworkern Angebote zu schaffen, um sie abzuholen. Und da ist jede positive Kleinigkeit ein Erfolg.“

HAST DU PERSÖNLICHE WÜNSCHE UND ZIELE FÜR DIESES PROJEKT? „Weitermachen. Ganz akut muss jetzt erst einmal die Shedhalle renoviert werden. Darum kümmert sich hauptsächlich die Stadt Krefeld. Aktuell werden durch einen Architekten Möglichkeiten für Erhaltungs- und Gestaltungsmaßnahmen ermittelt. Für UNS und NachbarschaftStiftung steht der Ausbau der Gemeinwohlarbeit mit den anderen örtlichen Initiativen an. Wichtig ist der Gewinn von Ehrenamtlern, die sich engagieren und ein noch diverseres Angebot an Aktivitäten ermöglichen, mit dem wir noch mehr unterschiedliche Menschengruppen ansprechen.“

WIE ERHALTEN AUSSENSTEHENDE EINEN GUTEN EINBLICK IN EURE ARBEIT UND DIE NACHBARSCHAFT? „Einfach vorbeikommen und gucken – und gerne an einer der Aktivitäten teilnehmen, die hier stattfinden. Wir haben zum Beispiel den regelmäßigen Spieleabend für Spielebegeisterte, das Nähcafé für Nähbegeisterte und für Leute, die einfach mal die Gemeinschaft erleben wollen, bietet sich der Suppentag am Donnerstag an.“

NOCHMAL ZUSAMMENGEFASST: WAS IST FÜR GELUNGENE VIERTELARBEIT BESONDERS WICHTIG? „Geduld. Man darf nicht erwarten, dass von heute auf morgen alles besser wird.“

VIELEN DANK FÜR DAS GESPRÄCH!