Wie Kopflüften 
den Geist belebt Urlaub fürs Gehirn

Krefeld · Was muss ich tun, um einen Raum von schlechter Luft zu befreien und das Gemäuer vor Schäden zu schützen? -Richtig, ich muss die Fenster aufreißen.

Taibe ist in Uerdingen aufgewachsen. Noch immer fühlt sie sich in der Rheinstadt zuhause, auch wenn sie inzwischen in der Krefelder Innenstadt lebt.

Foto: vertäll

Oft merke ich erst, wenn kühler, frischer Wind durch die Räume weht, wie schal es vorher darin war, wie der verbrauchte Sauerstoff mich träge gemacht hat. Interessanterweise verhält es sich bei unserem Gehirn sehr ähnlich. Zwischen all den Aufgaben, den Sorgen, den Plänen, dem Lernstoff und der Screentime, denen wir uns aussetzen, braucht es Zeit zum „Kopflüften“, wie Taibe Karaman es nennt.

Taibe gehört zu diesen Menschen, die schier unendliche Interessen haben und es schaffen, andere mit ihrer Begeisterung anzustecken. Sie tanzt, schreibt, spielt Gitarre, liebt gute Filme, hört gerne zu und ist seit der Schule dauerhaft ehrenamtlich engagiert – im Jugendzentrum „JoJo“, im Kommunalen Integrationszentrum und jetzt in einem -Kollektiv, das kreative Auszeiten anbietet, um dem Geist mal eine Pause vom Alltag zu gönnen. „Kopflüften“ nennen sie sich und das, was sie tun, und ich könnte mir keinen besseren Begriff dafür vorstellen.

Die Kopflüften-Crew (v.l.n.r.): Ilker, Osman, Merve, Erkan, Mikail, Niklas, Taibe, Lara, Sevda, Ömer. Pro Jahr veranstaltet das Kopflüften-Team ehrenamtlich etwa 50 Veranstaltungen.

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Kreativ und kommunikativ
„Kopflüften“ kann man beispielsweise bei Töpfer- und Modellierkursen mit Merve und Harun, bei Journaling-Treffen mit Esma, beim Siebdruck oder Punch-Needling mit Sevda, in den Videokursen von Osman, beim Drehbuchschreiben mit Ilker und Sinem, beim Linoldruck mit Mikail, in den Zine-Workshops von Erva und bei Taibes Schreibworkshops, die regelmäßig im Nachbarschaftszimmer der Alten Samtweberei statt-finden. „Unsere Teilnehmer sagen oft, dass die Zeit auf einmal anders vergeht, wenn sie sich bei uns konzentriert einer Sache widmen, die ihnen Spaß macht – im Alltag machst du das ja nicht so oft“, sagt Taibe.

Kopflüften ist aber auch zum Austausch da, um die soziale Scheu abzulegen, mit der viele junge Menschen heutzutage herumlaufen. „Nach der Schule, im Studium, hat bei mir eine Zeit begonnen, wo ich manchmal down und unmotiviert war. In dieser Zeit habe ich auch eine Art soziale Scheu entwickelt“, sagt die 29-Jährige. Und damit ist Taibe nicht allein. Gerade die Generation der -Millennials erlebt dieses Hin- und Hergerissen-Sein zwischen dem Wunsch nach Anschluss und der Angst vor Zurückweisung. Kein Wunder, mit einer Popkultur deren Protagonist*innen ständig einen schmalen Grat zwischen absoluter Verklärung und ultimativer Verdammnis entlangbalancieren. Mit sozialen Medien und den dort aktiven „Vorbildern“, die einerseits Selbstliebe und -erfüllung predigen, dabei aber unerreichbare Perfektion darstellen und oft aus sehr privilegierten Kontexten kommen. Es sei verwirrend, in so einer Welt aufzuwachsen, sagt Taibe: „Wir sind zwar der erste Jahrgang, der mehr oder weniger mit digitalen Medien großgeworden ist, hatten aber auch niemanden, der uns den Umgang damit nicht beigebracht hat. Ich habe mit dem Abitur mein erstes Smartphone bekommen und dachte: ‚Wow, was ist das für eine Welt da draußen?‘ Natürlich vergleicht man sich dann und fragt sich, wo sein Platz ist. Mir hat Kreativität immer gutgetan, wenn ich mich schlecht gefühlt habe, vor allem das Schreiben.“

Ohne Notizbuch trifft man Taibe nie. Das Schreiben – und seien es nur kleine Gedankenfetzen – ist ihr Ventil.

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Ohne LeistungsdruckTaibe und ihre Kolleg*innen setzen also Impulse für kreatives Abreiten und einen offenen Austausch. Dafür wendet Taibe in ihren Workshops gerne einen Trick an. „Ich stelle am Anfang eine Icebreaker-Frage. So startet jede Runde mit einer persönlichen Reflexion. Neulich, bei einem Postkarten-Workshop mit Merve, war die Frage: ‚Wann hast du das letzte Mal eine gute Nachricht bekommen?‘ In der Antwortrunde entstehen immer viele verschiedene Einblicke, ohne dass sich eine Person allein ins Spotlight stellen muss. Und die Leute lernen sich automatisch kennen.“ Man redet über Gefühle – vor anderen, aber vor allem mit anderen. Viele Gespräche drehen sich um Erfahrungen mit Ausgrenzung und die Suche nach Zugehörigkeit. Und um Leistungsdruck. „In unserer Community sind viele junge Menschen mit Migrationshintergrund. Wir kommen in der Regel aus Arbeiterhaus-halten, wo die Eltern ihre gesamte Hoffnung in die Kinder gesteckt haben“, sagt Taibe. Auch sie und die anderen Teammitglieder öffnen sich in diesen Runden. Kopflüften ist ein großes Geben und Geben.

Kopflüften ist überall
Ich bitte Taibe, mir auch mal so eine Icebreaker-Frage zu stellen – ich bin neugierig, was wohl passiert. Einige Tage nach unserem Gespräch bekomme ich eine Mail: „Wann hast du dich das letzte Mal richtig frei gefühlt?“ Ich weiß sofort, wann das war. Es ist gar nicht lange her. Ich bin im Urlaub auf einen Berg geklettert, einen kleinen, wie ich zuerst dachte. Aber hinter jedem vermeintlichen Gipfel kam ein neuer. Erst einer, dann ein zweiter, ein dritter – und dann war ich oben. Der Wind hat mir um die Ohren gepfiffen, ich habe mich ins Gras gesetzt, das weich war wie ein Loungesessel und meine müden Beine für ihre Arbeit belohnte. Ich habe in die Ferne geguckt, über die anderen Gipfel, auf die rauen Abhänge, in die Wolken, habe den Vögeln zugehört und gedacht: Hier könnte ich auch einfach bleiben.

Was ich da erlebt habe, das war Kopflüften. Zugegeben geht das im Urlaub auf italienischen Bergen besser als zu Hause. Aber es wäre falsch, nicht auch im Alltag nach diesen kleinen Momenten der Freiheit zu suchen, um die Gedanken „hören zu können“, wie Taibe in unserem Gespräch sagt. „Was die innere Stimme sagt, hört man besser, wenn man allein ist.“ Auch, wenn sie sich selbst nicht als Lehrerin sieht – man kann viel von Taibe lernen. Nicht nur, wie man schreibt, sondern auch, wie man sich selbst guttut. Also: Fenster auf und durchatmen – vielleicht hat die innere Stimme ja etwas zu sagen.

Kopflüften
Nachbarschaftszimmer, 
Lewerentzstr. 104, 47798 Krefeld 
(Workshop-Treffpunkt)
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