Der 1906 errichtete Altbau an der Gutenbergstraße diente ursprünglich als Wohnhaus des städtischen Gärtners, ab 1953 lebte und arbeitete hier der Schriftsteller und Journalist Otto Brües, dessen Tochter das Haus samt der umfassenden Bibliothek ihres Vaters an die Stadt übergab. Stand Brües seinerzeit noch für äußerst -konservative Werte, konnte sein Schaffensort seit der Schenkung Ende der 90er Jahre umgenutzt und als offenes, von Toleranz geprägtes Haus weiterentwickelt werden. Diesen Prozess unterstützt seit vier Jahren Marlene Jäger, die sich hierbei besonders auf die Nachwuchsförderung fokussiert.
Liebe Marlene, was ist für dich das Besondere an der Welt der Bücher?Am Lesen gefällt mir, dass die Bilder dazu im Kopf ent-stehen, so dass jede Person an ihrer eigenen Version der Geschichte oder des Gedichts mitarbeitet. Im Alltag empfinde ich das Lesen als entschleunigend. Ich kann ein Buch genau in dem Tempo lesen, das für mich gerade passt. Im Anschluss kann ich dann wieder mit anderen in den Austausch über die Erfahrung treten. Beim Lesen wie beim Schreiben interessiert mich, wie Inhalt und Form zusammenfinden. Dieses Augenmerk auf Handwerk habe ich auch bei den Büchern, die ich für Veranstaltungen auswähle.
Du vermittelst Literatur in zwei Formen. Das eine sind die Events und das andere sind die Workshops. Was -würdest du sagen, welche Ziele verfolgt ihr mit den jeweiligen Ansätzen?
Bei Interviews mit Autor*innen und Verleger*innen geht es mir darum, den Entstehungsprozess eines Werks zu beleuchten. Woher kam die erste Idee, welche Recherchen wurden unternommen, welche Erzählperspektive gewählt? Obwohl ich nun seit etwa vier Jahren die Ehre habe, auf Bühnen mit Autor*innen zu sprechen, gibt es immer wieder neue und erfrischende Ansätze in ihren Antworten. Die Workshops geben den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich konkret mit Fragestellungen ihrer eigenen Schreibprojekte zu beschäftigen.
Bleiben wir erst mal bei den Veranstaltungen. In eurer Reihe „Die Unabhängigen“ stellt ihr Independent-Verlage vor. Was sind unabhängige Verlage?
Wie in fast allen kreativen Bereichen gibt es auch im -Literaturbetrieb schon länger eine Tendenz zur Verengung auf wenige große Konglomerate, die den Markt dominieren. Durch ihre Größe können sie das finanzielle Risiko einer Publikation besser austarieren, agieren aber trotzdem eher vorsichtig. Unabhängige Verlage bedienen oft kleinere Zielgruppen oder setzen besondere Schwerpunkte. Obwohl die verlegten Bücher durchaus ein größeres Publikum ansprechen könnten, fehlt es den Verlagen häufig an Budget, um ihre Bücher im Buchhandel so zu platzieren, dass sie hervorstechen.
Erscheinen „echte Neuentdeckungen“, also wirklich besondere literarische Werke, eher bei unabhängigen oder kleineren Verlagen als bei den Großen?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Am Ende spielen sehr viele Faktoren eine Rolle, wenn es darum geht, wo ein Buch erscheint: Agenturen sind beteiligt, Lektor*innen, es geht um Rechte, Marketing, aktuelle Trends und vieles mehr. Durch die Verengung auf wenige große Verlage geht aber sicherlich literarische Vielfalt verloren. Dem wollen wir mit der Reihe entgegenwirken, indem wir das Augenmerk auf preisgekrönte unabhängige Verlage, ihre Geschichte und ihre Programme legen.
Ihr holt auch oft Übersetzer*innen auf die Bühne. Eine häufig über-sehene Gruppe Literaturschaffender, oder?
Das stimmt, was man schon daran merkt, dass die Namen der Übersetzer*innen meistens erst innen im Buch abgedruckt sind statt auf dem Cover. Und auch diese Profession hat es gerade nicht leicht. Denn zunehmend versuchen Auftraggeber*innen, Preise zu drücken, indem sie Bücher von einer KI übersetzen lassen, während Übersetzer*innen gegen deutlich weniger Honorar nur noch Anpassungen vornehmen sollen. Dabei braucht es für eine gute literarische Übersetzung viel mehr als Sprachkenntnis. Das wird auch bei unseren Veranstaltungen mit Übersetzer*innen immer wieder deutlich, wenn sie von ihrem Arbeitsprozess erzählen.
Eine weitere Gruppe, die im NLH eine Plattform erhält, sind Autor*-innen aus der Region. Wie sieht der literarische Niederrhein aus?
Der literarische Niederrhein ist sehr vielfältig. Viele Autor*innen schreiben in beliebten Genres. Krimis verfassen zum Beispiel Arnold Küsters, Tina Schlegel und Susanne Goga. Der -historische Roman ist durch Ulrike Renk und Rebecca Gablé vertreten. Im Fantasy-Bereich sind wahrscheinlich die bekanntesten Namen Akram El-Bahay und Bernhard Hennen. Manche Autor*innen bedienen auch mehrere Genres: Diana Menschig etwa schreibt Krimis, Fantasy und vieles mehr und hat auch das Phantastik-Autoren-Netzwerk mit begründet, das aktuell die „Verwunschenen Nächte“ auf Burg Linn mitorganisiert. Ich könnte noch eine ganze Weile so weitermachen, denn es gibt wirklich viele tolle und engagierte Autor*innen hier, und wir lernen auch immer wieder neue kennen. In unseren Veranstaltungen und in den „Bord“-Rezensionen auf unserer Website sieht man das deutlich. Weil wir gerade über unabhängige Verlage geredet haben, fällt mir als Besonderheit noch der ELIF-Verlag ein. Der hat seinen Sitz in Nettetal und veröffentlicht Lyrik aus der ganzen Welt. Verleger Dinçer Güçyeter ist selbst Lyriker, Autor und Theatermacher und erhielt 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse für sein genreübergreifendes „Deutschlandmärchen“, das bei mikrotext erschienen ist.
Der zweite wichtige Bereich, den du betreust, sind Schreibkurse namens „Satzgefüge“. Mit was für Fragen und Interessen kommen denn die Menschen zu diesen Treffen?
Unterschiedlich, aber alle eigentlich mit dem Wunsch, was Eigenes zu schreiben. Es gibt Leute, die sind schon sehr weit damit. Andere haben bisher drei Gedichte geschrieben und noch keinem gezeigt. Dann ist es meine Aufgabe, herauszufinden, wie man diese unterschiedlichen Menschen weiter ans Schreiben heranführen kann. Deshalb machen wir immer am Anfang des Jahres eine Umfrage, welche Themen unseren Teilnehmer*innen gerade wichtig sind. Uns geht es darum, dass sie miteinander lernen, ihr jeweils eigenes Projekt zu entwickeln. Das funktioniert sehr gut, weil das hier eine sehr wertschätzende Umgebung ist. Der erste Impuls kommt immer aus dem Eigenen heraus, aber daran zu arbeiten, das passiert miteinander.
Und sind da schon fertige Projekte entstanden?
Einige Projekte sind fertig, aber noch nicht veröffentlicht. Dieses Jahr machen wir zum ersten Mal einen Workshop zum Exposee-Schreiben, um ein Stück näher an dieses Thema heranzurücken. Wichtig ist aber auch, sich mit der Frustration beim Schreiben zu beschäftigen: ‚Du bist endlich fertig und zufrieden mit deinem Projekt und es wird einfach nicht -veröffentlicht. Wie geht man damit um? Wie kann man in anderer Weise diese Wertschätzung erleben, die in einer Veröffentlichung steckt und wie kann man lange genug durchhalten, bis es klappt?‘
Ist es eigentlich die Norm, dass man sich unter Autor*innen in solche Communities begibt? Denn nach außen hin ist der Autor, die Autorin immer so eine solitäre Figur. Man denkt an eine Person, die sich vier Monate in Frankreich in einem kleinen Haus verschanzt mit einer Schreibmaschine und dann da allein an ihrem Werk arbeitet… Ich glaube, es gibt beim Schreiben immer noch alles, aber es wird unterschiedlicher. Die Person, an die du denkst, ist wahrscheinlich ein Mann, hat ganz bestimmt eine Haushälterin und besitzt das Haus, weil er das geerbt hat oder so (lacht). In der Realität sind Menschen ja viel diverser. Die Literatur ist generell vielstimmiger geworden.
Apropos, vielstimmig. Auch Literatur folgt Trends, die inzwischen auch vermehrt in den Sozialen Medien entstehen – BookTok und Co. -Inwieweit spielt das eine Rolle für deine Arbeit?
In den Workshops spielt es schon eine Rolle, denn wir müssen ja die Leute auch da abholen, wo sie sind, und uns mit dem auseinandersetzen, was sie beschäftigt. Gleichzeitig haben wir aber auch einen Auftrag, das heißt, wir können nicht einfach immer nur die populärsten Buch auf TikTok besprechen. Mir ist es wichtig, mit den Leuten in der Schreibwerkstatt zu reflektieren, was sie warum lesen. Wir haben viele dabei, die auf irgendeine Weise eine marginalisierte Identität haben. Denen zeige ich dann gerne, was es abseits der Trends schon an literarischer Tradition gibt, in der sie sich wiederfinden können. Es haben zum Beispiel immer schon queere Leute Bücher geschrieben oder Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben. Mit einem Buch in der Hand fühlt man sich weniger allein in der Welt.
Um Vermittlungsformate mit so unterschiedlichen Gästen und -Teilnehmenden zu hosten, musst du sicher auch selber wahnsinnig viel lesen. Wie viele Bücher liest du pro JahrIch habe tatsächlich angefangen, meine Bücher privat zu tracken und komme da auf rund 18 Stück pro Jahr. Aber bei der Arbeit ist das schwer zu sagen. Manches lese ich nur an. Aber um ein Beispiel zu nennen: Für den literarischen Sommer 2025 habe ich zur Vorbereitung acht Romane komplett gelesen.
Und jetzt gerade?
Für die Arbeit starte ich gerade mit ‚Die widerspenstige Hand‘ von Nils Dorenbeck. Die Geschichte wird aus der Perspektive einer linken Hand erzählt, die sich selbstständig macht und sich dem Menschen, zu dem sie gehört, widersetzt. Das Buch ist im MaroVerlag erschienen. Privat lese ich gerade einen Lyrikband, der heißt ‚You Are Here‘, zusammengestellt von Ada Limón, und dann noch das Sachbuch, ‚An African History of Africa‘ von -Zeinab Badawi.
Hast du denn ein Lieblingsgenre?
Früher hätte ich immer gesagt: Roman. Aber der Roman ist ja auch so eine Form, die dadurch definiert wird, was sie alles nicht ist. Da ich gerade selber einen Roman schreibe, finde ich es spannend, andere Genres zu lesen.
Weil es die Abgrenzung erleichtert?
Ja. Ich glaube, für viele fängt der Wunsch, etwas zu schreiben damit an, dass sie viele Romane lesen oder sich mit einem bestimmten Thema beschäftigen. Und irgendwann kommt der Moment, wo man sich davon abgrenzen muss, um etwas Eigenes zu schaffen.
Und was schaffst du gerade?
Mich beschäftigt die Frage, wie es -aussehen würde, wenn eine Frau viel zu mächtig wird. Aus dem Grundgedanken ist die Geschichte langsam gewachsen. Inzwischen habe ich ein halbes -Romanmanuskript und befinde mich in einer Recherchephase: Was bedeutet Macht? Wann erfahren Frauen das? Wie unterscheidet sich ihr Machterleben von dem von Männern? Was sind Grenzen von Macht, auch planetare?
Hast du eine Deadline für dein Buch?
Nein, ich finde es ehrlich gesagt sehr angenehm, anders als im Studium mal nicht auf eine Deadline hinzuarbeiten. Jetzt gerade habe ich keinen Leit-faden, ich setze mir aber jedes Jahr ein Überthema für meine freie Schreibarbeit. Letztes Jahr war das ‚kreative Freude‘ – da habe ich zu meinen Figuren gefunden. Und für dieses Jahr ist mein Überthema eben Recherche. Es gibt da diesen Spruch: ‚Man überschätzt, was man in einem Monat schaffen kann, aber man unterschätzt, was man in einem Jahr schaffen kann‘.
Im Niederrheinischen Literaturhaus schafft ihr eine Menge in einem Jahr, wie man an eurem Terminkalender sieht. Gibt es ein besonderes Highlight für literaturinteressierte oder schreibbegeisterte Krefelder*innen?
Ja, dieses Jahr setzen wir eines meiner Herzensprojekte um: Wir -werden Kurzgeschichten im Stadtbad präsentieren. Bis zum 3. Juni läuft dafür eine Ausschreibung. Aus den Einsendungen wählen wir fünf Texte aus, der erstplatzierte wird live im Stadtbad vorlesen. Um das Ganze partizipativ zu öffnen, machen wir drei Workshops im Vorhinein: Der erste ist eine Leserunde mit der Fragestellung, wie man sich auf eine Moderation vorbereitet, welche Fragen man an ein Buch stellt und welche an Autor*innen? Der zweite ist ein Kurzgeschichten-Workshop mit Taibe Karaman. Und dann haben wir noch einen -Collagen-Workshop mit Sophia Wolff (Anm. d. Red.: woelfins), wo eigene Geschichten illustriert werden.
Niederrheinisches Literaturhaus
Gutenbergstr. 21,
47803 Krefeld
Tel. 02151 1541614
nlh-krefeld.de
Instagram
Facebook<br>Youtube