Alles fing an mit einer Masterarbeit
im Fachbereich Design.
2019 erarbeitet Julia, die bis dato hauptsächlich als Corporate Designerin tätig ist, in unterschiedlichen Kleingruppen textile Wolken und nennt diese Arbeiten „Soziale Objekte“, kurz „SO!“. Das Projekt wird mit dem Senatspreis ausgezeichnet. Ab diesem Zeitpunkt ist sie vernarrt in die Idee, Menschen über einen gemeinsamen Schaffensprozess miteinander in Verbindung zu bringen. „Ich möchte zeigen, dass sich das gut anfühlt, wenn man was zusammen macht“, erzählt Julia, die wir im Kaiser-Wilhelm-Museum treffen. „In dieser Art von Arbeit erlebe ich, dass Menschen durchaus gewillt sind, zusammenzuarbeiten. Und das ist mir am Ende auch wichtiger als irgendwas Hochästhetisches zu schaffen, das den Kunstmarkt bedient.“
Der Stoff, aus dem Krefeld istIn den vergangenen Jahren hat Julia drei große und sehr besondere Soziale Objekte für Krefeld konzipiert, angefangen mit einer Aktion im Rahmen der Ausstellung „Produktive Räume“ im Museum Haus Lange Haus Esters 2023. Mehr als tausend Leute kommen hier ihrer Einladung nach, unter dem Motto „Social Weaving“ an einem Teppich mitzuweben.
Im Rahmen der „Krefelder Seidenstraße“ besuchte Julia 50 Krefelderinnen und Krefelder zu Hause, um über Identität, Kultur und Gemeinschaft zu sprechen. Die Gesprächspartner*innen gestalteten je ein Stück Stoff für ein Seidentischtuch. Das Projekt wurde initiiert vom Haus der Seidenkultur.
Foto: RBAVAls Residenzprojekt in der Pförtnerloge der Fabrik Heeder entsteht 2024 die Nebenkrähe „Käthe“. „Käthe war ein sehr schönes Projekt. Ich hatte fast jeden Tag eine oder mehrere Schulklassen da, die Federn gebastelt haben. Zum Schluss hatte ich über 1000 Federn und eine Woche Zeit, daraus den Vogel zu machen. Am Abend der Ausstellungseröffnung haben wir Käthe dann einmal um die Heeder fliegen lassen“, erzählt die Künstlerin strahlend. Wenn sie über ihre Projekte spricht, mischt sich stets ein Glanz von Neugier in ihren Blick, fast so, als wäre sie mit der Erinnerung wieder ganz frisch entfacht worden.
Für die „Krefelder Seidenstraße“, ein Projekt in Kooperation mit dem Haus der Seidenkultur, wird Julia wenig später zur aufsuchenden Künstlerin. 50 Menschen trifft sie in deren Wohnungen, einen Laib Brot im Gepäck, zum persönlichen Gespräch über Krefelder Identitäten und Kulturen. Alle Teilnehmenden gestalten, angeregt durch das persönliche Gespräch, ein Textilstück, aus dem Julia schließlich ein Tischtuch schneidert. „Ich war schwer aufgeregt vor jedem Besuch. Aber ich wurde überaus freundlich empfangen, und die Menschen haben sich direkt total geöffnet“, erzählt sie mit merklicher Demut. Als sie an der Krefelder Seidenstraße arbeitet, erlebt sie einmal mehr, wie tief das Textile nach wie vor in den Krefelder*innen verwoben ist. Das SO! Seidentischtuch ist ein Symbol für den Wert der Vielfalt und eine Metapher für das Zusammenkommen. Das Stück wird ab dem 7. September in der Ausstellung „Layers and Narratives“ im Deutschen Textilmuseum zu sehen sein.
Vernäht, verwebt, verknüpftDer textile rote Faden, der sich durch Julias Soziale Objekte zieht, rührt von einem fast therapeutischen Grundgefühl her, das sie seit einigen Jahren mit diesem Handwerk verbindet: Im Rahmen eines Praxissemesters in den Niederlanden verbringt sie spontan sechs Wochen ganz allein in einer Katakombe – ohne Handy, Rechner, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. „In dieser Zeit habe ich durch Nähen viele Dinge verarbeitet“, erinnert sie sich. „Auch jetzt verspüre ich wieder große Lust, Puzzlestücke meines Lebens zu verbinden. Und das geht bei mir über einen Stitch, über das Nähen mit der Hand. Darüber hinaus bietet Krefeld natürlich viel Aneignungsfläche für Textiles.“
Die Krähe Käthe ist als Residenzprojekt in der Pförtnerloge der Fabrik Heeder entstanden. Die Federn des Vogels wurden von Schülerinnen und Schülern aus Krefeld und Umgebung hergestellt. Nicht selten entstehen aus den Sozialen Objekten bleibende neue Verbindungen und Gemeinschaften zwischen den Mitwirkenden.
Foto: RBAVDas Klischee des Künstlers erzählt vom kreativen Genie als Einzelkämpfer, der gar nicht anders kann, als seine Inspirationsschübe in trancehafter Manie auf Leinwand zu bannen oder in Stein zu meißeln. Gleichzeitig sprechen sich viele Menschen jedes kreative oder handwerkliche Geschick ab, weil sie sich nicht als außergewöhnlich talentiert wahrnehmen. Julia möchte dieses Bild wandeln. Ihre Sozialen Objekte sind kreative Übungen in Toleranz und Gemeinschaft, sie eröffnen aber auch Momente der Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit. Es geht nicht darum, sich ein eigenes Denkmal zu setzen oder mit Virtuosität zu beeindrucken, sondern darum, authentische Teile zu einem großen Ganzen beizutragen.
„Soziale Objekte geben Menschen die Möglichkeit, sich auszudrücken. Und ich motiviere diejenigen, die mitwirken, sich dabei auf sich selbst zu verlassen. Das ist für mich eigentlich der Urgedanke von Kunst. Dass jeder individuelle Fähigkeiten oder einfach auch ein individuelles Seelenleben mitbringt, die er ausdrücken kann. Und dazu muss man nicht Mozart sein, auch nicht Immendorf oder sonst wer“, erklärt sie und lächelt. „Das geht auch mit einem Rahmen, der gespannt wird, einem großen Anspruch an Freiheit und jemandem, der sagt: ‚Mach mal‘.“
Mit einem „Mach mal“ hört Julias Arbeit allerdings nicht auf. Sie ist Impulsgeberin, Gesprächspartnerin, Wegbegleiterin, Kuratorin und als diejenige, die die Einzelteile der Partizipierenden in eine Form bringt, schließlich immer auch bildende Künstlerin.
Vielfalt ermöglichenDabei wächst ihr Anspruch an die eigene Arbeit als Vermittlerin zwischen den individuellen Anteilen stetig. Bewegt sie sich anfangs noch mit einer deutlich vorgegebenen Ästhetik und limitierten Materialien auf die Mitwirkenden zu, werden die Werke mit den Jahren bunter und vielförmiger. Heute ist ihr Ziel, eine möglichst große Individualität der Einzelteile zu ermöglichen. Eine aktuelle Arbeit sei dadurch ziemlich herausfordernd, verrät sie und scheint in Gedanken den Blick über das Puzzle in ihrem Atelier streifen zu lassen: „Da habe ich alle Materialien, die man sich so vorstellen kann, bereitgestellt, damit jeder der Teilnehmenden etwas findet, was ihm gefällt. Manche wollen mit Farben arbeiten, beim nächsten ist es Holz und so weiter. Und jetzt habe ich 300 Arbeiten, die ich zu etwas machen muss. Dafür einen Rahmen zu finden, ist fast unmöglich. Aber ich finde es spannend, mich dem zu stellen – und ich glaube, das ist auch grundsätzlich unsere Aufgabe als Menschen: Komplexität anzuerkennen, Gemeinsamkeiten zu suchen statt Unterschiede. Es gibt einfach viel, und wir müssen gucken, dass wir das unter einen Hut kriegen. Ich finde das hochinteressant!“ Fluxus trifft Beuys trifft Maximalismus.
Es gebe noch viel zu entwickeln, sagt Julia. Neben ihren Überlegungen zur Vielfalt der Einzelbeiträge beschäftigt sie gerade auch die Veränderbarkeit oder sogar Auflösung der fertigen Arbeiten. Manchmal habe sie das Bedürfnis, ihre Werke ganz zum Schluss wieder in ihre Einzelteile zu zerlegen und den Mitwirkenden zurückzugeben oder Materialien zu recyceln, erzählt sie: „Ein Werk hat irgendwann alles erzählt, was erzählt werden musste.“
Wie man den roten Faden in der
Kunst erklärt
Was Werke erzählen und wie wir uns dem nähern können, ist neben den Sozialen Objekten Julias zweites großes Arbeitsthema. Für die Kunstmuseen Krefeld erarbeitet sie regelmäßig Projekträume zu laufenden Ausstellungen, die einen niederschwelligen und spielerischen Einstieg in das Erlebnis Museum ermöglichen. In der Kunst sind rote Fäden nicht immer direkt ersichtlich. Julia Timmer ist in der Lage, sie sichtbar zu machen – und ermutigt gleichzeitig, die Richtschnur auch mal loszulassen. Aktuell kann man sich mit Julias Unterstützung im Kaiser-Wilhelm-Museum der Welt Adolf Luthers nähern. Hörend, tastend – und sogar schmeckend. Wie das geht, sollte jede*r, der es schafft, noch selbst ausprobieren. Die Luther-Ausstellung „Sehen ist schön“ läuft hier noch bis zum 21. September 2025.