Wohnungslosigkeit, Armut, Familienstreit, Kriminalität. Meistens wabert über allem eine mächtige Perspektivlosigkeit. Tolga Sürget versucht, diese Probleme aufzufangen und in eine neue, in eine hoffnungsvollere Richtung umzuleiten. Der 33-Jährige ist Schulsozialarbeiter am Berufskolleg Glockenspitz.
Hier betreut er Schüler in einem besonderen Modell, den sogenannten AVV-Klassen. Abgekürzt steht AVV für Ausbildungsvorbereitung Vollzeit, für viele steht die Buchstaben-Kombination aber darüber hinaus für einen echten Lichtblick. Denn dorthin kommen Jugendliche ohne Schulabschluss.
Die AVV-Klassen an Berufskollegs geben ihnen die Chance, diesen nachzuholen, um parallel bestenfalls eine berufliche Anschlussoption aufzubauen. Einfach ist all das nicht. Die Jugendlichen, meist sind sie 16 bis 18 Jahre alt, tragen viele Belastungen, Ängste, manchmal gar Nöte mit sich. Hier beginnt Tolga Sürgets Job.
Momentan betreut er rund 30 Jugendliche. Das Berufskolleg Glockenspitz verfügt zwar über vier AVV-Klassen, die sich allesamt einem anderen Ausbildungsschwerpunkt widmen. Doch bei rund 160 Jugendlichen wäre ein Schulsozialarbeiter allein schlicht überfordert. Sürget, der bei der städtischen Kommunalen Zentralstelle für Beschäftigungsförderung arbeitet, teilt sich die Aufgabe mit zwei Kolleginnen. Sie sind wiederum beim Land als Sozialarbeiterinnen angestellt.
Tolga Sürget hält seine Arbeit sorgfältig nach. Die realen Probleme seiner Schüler überträgt der studierte Sozialpädagoge regelmäßig in Tabellen und Grafiken, um sie fundiert zu analysieren.
Die Statistik zeichnet ein klares Bild: Fast die Hälfte der von ihm betreuten Jugendlichen markiert Perspektivlosigkeit als dringlichstes Problem. Dahinter reihen sich psychische wie akute Krisen und schulische Probleme ein.
„Das Konzept der AVV-Klassen ist grundsätzlich eine Supersache“, erklärt Tolga Sürget. „Die Jugendlichen erhalten hier nochmal eine Riesenchance, nachdem es auf dem ersten Bildungsweg nicht geklappt hat. Auf der anderen Seite bleibt ihnen nur ein Jahr, in dem sehr wichtige Weichen für die Zukunft gestellt werden müssen. Eine enge Begleitung von außen ist deshalb das A und O.“
Seit 2021 ist er in der kommunalen Schulsozialarbeit beschäftigt, war zunächst in einer Grundschule, dann in einer Förderschule. Vor zwei Jahren wechselte er ans Berufskolleg.
Ihm gefällt die dynamische Arbeit im interdisziplinären Team, das sich hier geschlossen hinter den Jugendlichen in den AVV-Klassen versammelt. Dazu zählen die Schule, die Lehrkräfte und die Schulsozialarbeiter, aber auch die Arbeitsagentur und beteiligte Betriebe.
Die engmaschige Begleitung bedingt allein schon der zeitliche Druck. Lediglich bis zu den Herbstferien besuchen die Jugendlichen das Berufskolleg alle fünf Wochentage. Dann starten sie bei einem Betrieb in ein Blockpraktikum, das sie bis Schuljahresende donnerstags und freitags einspannt. So bleiben Tolga Sürget und seinen Kolleginnen nur noch drei Tage, um den Jugendlichen in Präsenz Hilfe anbieten zu können.
Die Themenvielfalt ist nahezu unerschöpflich. Viele Jugendliche in den AVV-Klassen sind neu aus anderen Ländern zugezogen, viele stecken in akuten Notlagen, viele benötigen Hilfe, etwa bei Behördengängen. Außerdem besucht Sürget regelmäßig gemeinsam mit den Schülern verschiedene Berufsmessen und organisiert Projekte zur Demokratieförderung sowie Arbeitsvorbereitung.
Seine Hauptaufgabe jedoch ist die Einzelfallberatung. In diesem Kontext verfolgt er eine klare Leitlinie: Er versucht, sich jedem Jugendlichen und jedem Anliegen mit der größtmöglichen Aufmerksamkeit zuzuwenden. Und er versucht, Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass er in einer Art Lotsenfunktion in das Hilfesystem der Stadt und anderer Behörden vermittelt.
„Ich wirke vor allem auf Selbstständigkeit hin. Es bringt nichts, wenn die Jugendlichen in Watte gepackt werden und ich die Probleme für sie löse. Ich stehe immer zur Seite und zeige Wege und Hilfsmöglichkeiten auf. Aber nach dem Schuljahr sind die Jugendlichen auf sich allein gestellt. Dann müssen sie selbst klarkommen.“
Gleichwohl sei eine empathische und stärkenorientierte Unterstützung unabdingbar. „Alle Schülerinnen und Schüler verfügen über ganz wertvolle individuelle Talente. Leider ist ihnen das häufig nicht so bewusst oder bislang noch nicht gesagt worden. Und deshalb bekommen sie ihre Fähigkeiten auch immer und immer wieder von mir aufgezeigt.“
Ziel der AVV-Klassen ist es, dass die Schüler sie mit dem Hauptschulabschluss nach Klasse neun verlassen und somit insgesamt in ein selbstbestimmtes Leben übergehen können.
Danach ergeben sich mehrere Optionen: Entweder beginnen die Jugendlichen mit einer Ausbildung, steigen in eine berufliche Maßnahme der Arbeitsagentur ein oder führen den schulischen Weg am Berufskolleg fort.
Tolga Sürgets Hilfestellung endet dann aber noch nicht abrupt. Wenn erforderlich, steht er auch seinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern weiterhin mit Ratschlägen zur Seite. Gleichwohl muss er sich um einen neuen AVV-Jahrgang kümmern. Langeweile gibt es in seinem Job nicht.