Tom van Dutch fotografiert Lost Places Die Schönheit des Verfalls

Kamp-Lintfort · Tom van Dutch aus Kamp-Lintfort ist Urbexer. In 17 Jahren hat er schon Tausende Lost Places in ganz Europa besucht, fotografiert und dokumentiert. Wir begleiten ihn auf seiner Reise zu längst vergessenen Orten und lassen uns von der Schönheit des Verfalls und dem Charme des Maroden faszinieren.

Einer der wohl bekanntesten Lost Places: Tschernobyl, hier ein Autoscooter im zerstörten Vergnügungspark in der Sperrzone.

Foto: Tom van Dutch

Tom van Dutch hält Lost Places in Bildern und Worte für die Nachwelt fest, bevor diese Orte die Welt verlassen. Es sind Orte wie der Kontrollraum in Ungarn, der zum einst größten und modernsten Kraftwerk der Welt gehört und in den das Licht durch eine gläserne Art-déco-Decke fällt. Wie das Gefängnis Ulmer Höhe, in dem einst Terroristenführer einsaßen. Oder das Rote Banner, ein Schwimmkomplex, in dem Michael Groß zwei Weltrekorde schwamm und in dem 2015 sogar noch die riesige Anzeigewand von Seiko steht, obwohl sich Verfall und Graffitis längst ihren Weg gebahnt haben. Zu manchen seiner Bilder hat Tom bis zu vier Seiten niedergeschrieben, die Infos stammen aus Recherchen vor Ort, aber auch aus Googlesuchen. Schwierig wird’s bei Gebäuden, die im Privatbesitz sind. Doch auch diese verlassenen Orte haben ihren ganz eigenen Charme, wie ein Blick in Toms Fotoalbum zeigt. Da hängen noch die Jacken am Haken und das Gebiss liegt auf dem Nachttisch, obwohl hier schon lange niemand mehr wohnt. „Ich stand schon in Häusern, wo ich dachte: Jetzt kommt die Oma gleich wieder nach Hause“, erzählt der 58-Jährige. Die größte Gänsehaut überfiel ihn jedoch in Tschernobyl, als er in einem ehemaligen Schulgebäude die Mensa betritt und auf dem Boden überall Kindergasmasken liegen sieht. Seinen Begleiterinnen hätten damals die Tränen in den Augen gestanden: „Obwohl man schon so viel von dieser Katastrophe gesehen und gehört hat – das ist nicht zu vergleichen mit dem, was du fühlst, wenn du selbst dort stehst.“

Tom van Dutch ist Autodidakt, er hat sich alles rund um das Fotografieren selbst beigebracht.

Foto: Tom van Dutch

Die Faszination der Vielfalt des VerlassenenDie Schönheit des Verfalls, die Macht der Natur, die sich zurückholt, was ihr gehört, und das Überleben vergangener Geschichten hat viele, mitunter auch morbide Gesichter. Tom mag besonders Industrie-Orte, „wo es noch so richtig nach Arbeit riecht“, wie in dem Stahlwerk in Frankreich, das er vor einigen Wochen besucht hat. Auch Schlösser gehören zu seinen Favoriten. Aber eigentlich liebt er die Lost-Place-Fotografie wegen der Abwechslung, mag es, wenn „viele verschiedene Dinge zu sehen sind“. Was er jedoch nicht so gerne sieht: Schmierereien, insbesondere die vielen Hakenkreuze und Penisse. „Schmierereien retuschiere ich weg, außer sie passen zum Motiv“, so Tom. Die Bildbearbeitung muss auch dann herhalten, wenn es gilt, die Atmosphäre noch besser herauszuarbeiten. Schließlich sind die Lichtbedingungen oft nicht die besten. Lost-Place-Fotografie sei eben eine Herausforderung, bei der man „die Gegebenheiten so nehmen muss, wie sie sind“.

Hotel Atlantis: Grünspan und Moos und ein gelber Sesselüberzug - kannste dir nicht (besser) ausdenken.

Foto: Tom van Dutch

Aber es gehört auch eine Portion Abenteuerlust dazu, oder? „Früher mal, jetzt nicht mehr so“, sagt Tom, dessen Faszination für Lost Places bei einem Fotoshooting mit der Ex-Freundin vor 17 Jahren in der alten Hermes Papierfabrik in Düsseldorf geweckt wurde. In Deutschland hat er drei Anzeigen wegen Hausfriedensbruch. Im Ausland kam er bisher stets davon, obwohl er in Italien schon mal einen 9mm Karabiner von der Polizei vor die Nase gehalten bekam: „Aber dann war das ganz entspannt“, lacht er, denn der Polizist, der einem Anruf aus der Nachbarschaft nachging, war eher beruhigt, dass nichts Schlimmes in dem Keller des verlassenen Hauses auf ihn wartete und nahm, „damit der Nachbar beruhigt ist“, nur die Personalien auf und erteilte ein Platzverbot.

Der Kontrollraum in Ungarn gehört für Tom zu den Top 10 der Lost Places: „Es war 6 Uhr morgens, als wir eingestiegen sind, das Licht der Dämmerung brach gerade durch die Art-déco-Decke. Es war magisch. Da fehlen dir einfach die Worte.“ So lost ist dieser Place -allerdings nicht, denn er hat bereits in fünf Filmen - mitgespielt.

Foto: Tom van Dutch

„Nimm nichts mit – außer 
Deinen Bildern. Lasse nichts zurück – 
außer Deinen Fußspuren!“Der Vorteil von Urbexern: Man erkennt direkt, dass sie keine Vandalen sind: teure Arbeitshosen, Sicherheitsschuhe, hochwertige Taschenlampen, erstklassige Fotoausrüstung. Ein Presseausweis und ein paar Scheine im Portemonnaie haben auch schon mal weitergeholfen, wenn sich jemand nicht vom Äußeren beeindrucken ließ. Ja, in Lost Places einzusteigen, ist illegal, aber Urbexer verurteilen Vandalismus und haben einen Verhaltenscodex: „Nimm nichts mit – außer Deinen Bildern. Lasse nichts zurück – außer Deinen Fußspuren!“ Daher werden auch keine Türen oder Fenster aufgebrochen: Wenn es keinen Einstieg gibt, geht man wieder! Und man verzichtet, wenn das Risiko zu groß ist, weil das Gebäude nicht mehr sicher ist. Es ist ein stetiges Abwägen. Und das habe bisher gut geklappt, denn bis auf ein paar Kratzer, Schrammen und Beulen sei noch nichts passiert, versichert Tom. Hausfassaden würde er zum Beispiel nicht hochklettern, denn da würde man nicht nur seine eigene Gesundheit oder gar sein Leben riskieren, sondern auch das von Rettungskräften – „und das geht gar nicht!“ Wichtig sei auch, in Begleitung unterwegs zu sein, falls dann doch mal was passiert. Tom hat da quasi ein festes Team. Nur wenn’s ihn spontan in die nähere Umgebung zu einem Ort zieht, ist er alleine unterwegs. Dann hinterlässt er aber stets seine Koordinaten bei einer Kontaktperson, die dann auch auf Nachrichten zu verabredeten Uhrzeiten wartet.

Wie man Lost Places findet? Internetrecherche, Augen auf – 
und Networking!Auf der persönlichen Karte des Kamp-Lintforter Urbexers sind mittlerweile über 3.500 Lost Places verzeichnet. Belgien und Osteuropa sind die Hochburgen. Standorte und Außenaufnahmen werden nicht veröffentlicht. Zu den Bildern verrät Tom nur das Land und das Jahr der Aufnahme. Dinge, die Rückschlüsse erlauben, wie Firmennamen oder persönliche Dokumente, werden verfremdet. Die Szene teilt aber untereinander ihr Wissen um entsprechende Koordinaten und auch um die Gegebenheiten vor Ort. Networking bringe daher die meisten wertvollen Infos: „Wenn ich schon im Vorfeld weiß, wo ich wie reinkomme, dann hilft das enorm.“ Manchmal kommt auch der wichtige Hinweis, dass ein sonst geschlossenes Areal plötzlich geöffnet sei, dann heißt es: „Schnell hin, denn am nächsten Tag könnte es schon wieder zu spät sein.“

Die Follower sind begeistert. Nicht nur wegen der schönen Bilder, sondern auch wegen der Geschichten, die Tom mit ihnen teilt. Kündigt er ein neues Album in den Sozialen Netzwerken an, steigen die Klickzahlen auf seiner Homepage rasant an. „Ich fotografiere ja nicht, damit die Bilder auf der Festplatte versauern. Ich freue mich, wenn ich zum Beispiel Leute, die sich selbst nicht trauen, an der Faszination Lost Places teilhaben lassen kann“, sagt er. Und er freut sich auch darüber, dass immer wieder Kuratoren auf ihn aufmerksam werden. Eine seiner Fotografien ist zurzeit etwa im Bridgeport Art Center Chicago ausgestellt.

Der Heilige Gral der Urbexer-Szene: der Weltraumbahnhof BaikonurIm November wird Tom van Dutch Bosnien, Montenegro und Albanien besuchen, 2026 geht’s für zwei Wochen in die USA. Die Touren legt sich der Außendienstmitarbeiter eines großen Automobilherstellers in seine Urlaube oder an die Wochenenden. Sein großer Traum bleibt eine Reise zum Heiligen Gral der Urbexer-Szene, zum Weltraumbahnhof Baikonur. Mitten in der kasachischen Steppe haben die Russen ein Gelände gepachtet, auf dem Riesen-Spaceshuttles gebaut wurden. Zwei stehen noch dort. Um diese zu sehen, muss man einiges auf sich nehmen, denn das Areal ist streng bewacht; besonders, weil es noch einige aktive Rampen gibt, von denen Raketen starten. Es gilt 22 Kilometer im Dunkeln zu Fuß durch die Steppe zu laufen. Tagsüber ist es heiß, nachts kalt. Der Wasservorrat muss stimmen, erst letztes Jahr ist ein Urbexer auf dem Weg an einer Dehydrierung gestorben. Wer Glück hat, findet einen Taxifahrer, der gegen entsprechende Bezahlung die Wegstrecke verkürzt. Hat man es bis zum Gelände geschafft, wird sich ein Versteck gesucht und dort erst mal geschlafen, um in der Dämmerung wieder ungesehen aktiv werden zu können. Das wäre dann doch noch einmal ein Riesenabenteuer.

Wer mehr sehen will, schaut online vorbei: Tom van Dutch ist auf Facebook und Instagram aktiv.
Außerdem gibt’s eine wunderbare Homepage: tomvandutch.de