Krefelder Ehepaar alphabetisiert an der VHS Die Welt verstehen können

Krefeld · Einen Einkaufszettel schreiben, Kochrezepte lesen, den Busfahrplan verstehen – was für die große Mehrheit Kleinigkeiten sind, erweist sich auch in Deutschland für viele Menschen als beträchtliche Alltagshürde. Laut Schätzungen sind hierzulande 6,2 Millionen Menschen gering literarisiert, das heißt, sie haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben von Texten.

Sie kümmern sich um die Alphabetisierung von Menschen mit geistigen Einschränkungen in Krefeld: VHS-Programmbereichsleiter Wojciech Cichon (v. li.), die Dozenten Wolfgang Ropertz, Dieter und Angelika Fehmer sowie Ingeborg Müllers und Dr. Günther Porst vom Förderverein der Krefelder Volkshochschule.

Foto: Stadt Krefeld

Zwei Millionen betrifft das im engeren Sinne, sie können kaum bis gar nicht lesen oder schreiben. Analphabetismus durchzieht die gesamte Gesellschaft, die Ursachen sind vielschichtig. Dafür sensibilisiert auch der Weltalphatag am 8. September.

Schon seit über zehn Jahren sorgen Angelika und Dieter Fehmer an der Volkshochschule (VHS) Krefeld dafür, dass Menschen lesen und schreiben lernen. Ihre Kurse richten sich an Personen mit geistigen Einschränkungen und Lernschwierigkeiten. Die Mission des Krefelder Ehepaars: Die Kursteilnehmenden sollen die Welt verstehen können. Ab sofort können sie das gänzlich kostenfrei.

Pünktlich zum Herbstsemesterstart an der VHS haben die Fehmers in der ersten Septemberwoche die ersten beiden von insgesamt 24 Kurseinheiten unterrichtet. Einmal in der Woche leitet Angelika Fehmer eine Gruppe mit sehr geringen Lese- und Schreibkompetenzen. Manche kennen keinen Buchstaben, andere können kurze Wörter und Sätze lesen. Einen Raum weiter führt Dieter Fehmer durch einen Lesekurs, der sich für bereits Fortgeschrittene eignet. Sie nähern sich mit Lektüren in einfacher Sprache dem weitergehenden Textverständnis.

Beide Kurse eint die übersichtliche Kursgröße von sechs bis maximal neun Teilnehmenden. Sie decken eine breite Altersspanne von 20 bis über 50 Jahren ab. Viele von ihnen nutzen das Alphabetisierungsangebot schon seit Jahren. Sie kommen meist direkt nach der Arbeit in einer Werkstatt zum 90-minütigen Lernen in die Volkshochschule. Die Teilnehmenden können hierfür den Fahrdienst der Stadt Krefeld nutzen.

Nach diesem zweigliedrigen Konzept lehren die Fehmers nun seit über einer Dekade. Sie waren es auch, die die Alphabetisierungskurse einst in die VHS getragen haben. Das Ehepaar, das einen Sohn mit Lernbeeinträchtigungen hat, treibt die feste Überzeugung an, dass allen Menschen ein lebenslanges Recht auf

Bildung und kulturelle Teilhabe zusteht. „Lesen und Schreiben ist der Schlüssel, um sich die Welt erschließen zu können: Ob im Supermarkt, im Rathaus oder wenn es darum geht, sich Informationen für eine Wahl einzuholen. Unsere Teilnehmenden sind zudem einfach irrsinnig stolz, dass sie gemeinsam und gleichberechtigt eine Schule besuchen dürfen“, sagt Angelika Fehmer, die jahrelang für die Lebenshilfe gearbeitet hat. „Bei den meisten erreichen wir immer spürbare Fortschritte, nicht nur didaktisch, sondern auch im Selbstvertrauen. Das ist eine weitere großartige Folge dieser Lernarbeit.“

Dass Teilnehmende in den Kurs ihres Mannes wechseln, kommt aber eher selten vor. Dieter Fehmer, seit fast 40 Jahren Dozent für Deutsch als Zweitsprache, ist leidenschaftlicher Leser und Literaturanhänger. Mit seiner Kursgruppe studiert er Werke wie „Romeo und Julia“ oder „Das Tagebuch der Anne Frank“, allesamt in Leichter Sprache. Sie schreiben gemeinsame Zusammenfassungen, schlagen schwierige Begriffe nach und strukturieren den Inhalt. „Literatur öffnet Welten“, meint Fehmer. „Ich merke, dass meine Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer über die Lektüre neugierig auf das Leben werden. Sie wollen die Welt kennenlernen und wissen, was früher war und heute ist.“ Deshalb reichert er seinen Lesezirkel gerne durch weitergehende Aktivitäten an. Mit dem Kurs besuchte er schon eine Theatervorstellung zu Shakespeares Liebesklassiker oder das Anne-Frank-Haus in Amsterdam.

Seit diesem Semester greift eine erfreuliche Neuerung. Der Förderverein der Volkshochschule Krefeld um den Vorsitzenden Dr. Günther Porst übernimmt vollumfänglich die Kosten der Teilnehmenden für die Alphabetisierungskurse. In beiden Kursen stehen noch Plätze zur Verfügung, die jederzeit, auch im Laufe des Semesters, besetzt werden können. Zum Semesterauftakt in der ersten Septemberwoche waren wieder einige bekannte Gesichter dabei. „Wir freuen uns aber auch sehr über Neuzugänge“, bekräftigt Angelika Fehmer, die aus ihrer Lehrtätigkeit zudem ganz eigennützig positive Begleiteffekte ableiten kann. „Die Lebensfreude der Teilnehmenden, wenn sie hier etwas geschafft haben, ist absolut ansteckend. Das strahlt auch auf mich und meinen Alltag aus.“

Die Alphabetisierungskurse an der Volkshochschule sind grundsätzlich für alle Menschen offen. Jedoch sollte sich das Lernniveau und -tempo unter den Teilnehmenden ungefähr die Waage halten. Für Menschen ohne geistige Beeinträchtigungen, deren Muttersprache Deutsch ist, bietet die Johanniter-Hilfsgemeinschaft Duisburg-Krefeld-Niederrhein als Kooperationspartner der VHS Alphabetisierungskurse in Krefeld an. Bei Informationen steht bei der VHS Programmbereichsleiter Wojciech Cichon unter Telefon 02151 862658 oder E-Mail an wojciech.cichon@krefeld.de zur Verfügung. Nicht-Muttersprachler können sich beim Integrationskurs-Team der VHS unter Tel. 02151 862643 über einen passenden Integrationskurs zur Alphabetisierung informieren.