„Hier ist der Ziegelstein eingeschlagen, ganz knapp neben dem Fenster eines Bewohners...“ Lebenshilfe-Geschäftsführer Özgür Kalkan zeigt der sichtlich betroffenen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sowie Vertretern aus Politik und Presse die inzwischen verputzte Einschlagstelle an der Fassade, und erklärt weiter, dass es einen ähnlichen Anschlag auf die Geschäftsstelle an der Bödikerstraße gegeben habe. Der entstandene Sachschaden ist dabei nicht das Thema. Wirklich schlimm ist, was die Vorfälle mit den Menschen gemacht haben. „Die Bewohner hatten Angst, eine Bewohnerin hat ein intensives Trauma erlitten. Es hat uns regelrecht überrollt, auch die Angehörigen“, erinnert Kalkan. Inzwischen seien sie zum Glück „drüber weg“, auch dank der gemeinsamen Aufarbeitung. Aber die Sorge bleibe – und der Zwiespalt zwischen Schutz auf der einen Seite und der Selbstbestimmung der Bewohner auf der anderen. So muss der Zugang zur Einrichtung zum Beispiel etwas beschränkter sein, aber eben ohne die Bewohner einzusperren.
Der Besuch von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas an diesem Tag soll aber nicht nur böse Erinnerungen wecken, sondern vor allem im Zeichen der Solidarität, der Teilhabe, des Miteinanders stehen.
„Die Welle an Solidarität nach dem Angriff hat uns überwältigt“, sagt Lebenshilfe-Mitarbeiterin Isabel von Gehlen. Nicht nur bei Gedenkfeiern in der Stadt, sondern auch unmittelbar in der Nachbarschaft habe es unzählige Solidaritätsbekundungen gegeben. „Das zeigt, dass wir alle zusammenhalten und das gibt uns allen Kraft!“
Und so geht es auch bei der kleinen Führung durch das Haus positiv gestimmt weiter. Bewohner Uwe übernimmt und zeigt der Bundestagspräsidentin unter anderem sein Zimmer und den großen Aufenthaltsraum. „Wie heißt denn der Bär da in der Schaukel?“, fragt Bärbel Bas interessiert. „Und wird hier auch gegessen?“
Auch an der anschließenden Besprechung nehmen nicht nur OB Felix Heinrichs, Gülistan Yüksel (MdB) und Janann Safi (Mitglied im Stadtrat) teil, sondern (selbstverständlich) nahezu alle 30 Bewohner. Die sind gut vorbereitet und stellen der Bundestagspräsidentin wichtige Fragen wie „Warum gibt es immer noch so viele Hindernisse?“ Bärbel Bas antwortet: „Weil wir früher noch nicht so gebaut haben. Sogar Arztpraxen sind ja zum Teil noch nicht barrierefrei. Wir haben im Bundestag beschlossen, das mit viel Geld nach und nach zu verbessern, aber die Privaten, Geschäfte usw. müssen natürlich auch mitmachen!“ Mit der Frage „Warum bekommen wir in den Werkstätten so wenig Geld?“ bringt ein anderer Bewohner ein heißes Thema auf. Bärbel Bas findet auch, dass es nicht nur ein Taschengeld, sondern einen echten Lohn geben müsste, schließlich stellten die behinderten Menschen ja auch gute Produkte her, aber das mit der Finanzierung der Werkstätten sei wegen der Querfinanzierung über Landschaftsverbände eben nicht so einfach...
Auch persönliche Fragen wie die nach ihren täglichen Aufgaben beantwortet die Bundestagspräsidentin entspannt und auf Augenhöhe. „Meine Aufgabe ist es, für Ruhe zu sorgen, die Würde des Bundestags zu wahren...“ Mit seiner Beschreibung „Sie müssen dafür sorgen, dass die Parteien sich mögen“, bringt Bewohner Christian die Politiker dann noch ganz schön zum Schmunzeln.
Einig sind sich jedenfalls alle in einer Hinsicht: „Wir müssen uns nicht immer einig sein. Aber wir müssen vernünftig miteinander reden – so wie wir hier zusammen sitzen und vernünftig miteinander reden.“ Zum Schluss appelliert die Bundestagspräsidentin noch einmal an die Bewohner wie an alle Bundesbürger: „Ihr seid Teil dieser Gesellschaft, und entscheidet mit, also wenn ihr wählen könnt, geht wählen!“
Für die Bundestagswahl an diesem Wochenende gerüstet sind die Bewohner jedenfalls. „Wir haben in den letzten Wochen politische Aufklärungsarbeit gemacht, sind die Programme der verschiedenen Parteien durchgegangen“, so Geschäftsführer Kalkan. Auch das befähigt zur Teilhabe – so wie die Rückenstärkung durch die Gesellschaft.
*Behinderte Menschen gehörten zu den ersten planmäßig verfolgten Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns. Den sogenannten „Euthanasie“-Morden sind schätzungsweise 300 000 Menschen zum Opfer gefallen.