„Es gibt immer weniger Menschen,
die den Krieg selbst miterlebt haben, die uns als Zeugen aus dieser Zeit berichten können. Veranstaltungen wie die heutige werden deshalb wichtiger. Erst recht deshalb, weil sie Gelegenheit bieten, Schuld und Verantwortung klar zu benennen:
Es waren die Nationalsozialisten in Deutschland, die diesen Krieg begonnen haben.“ Das Kriegsende sei eine Befreiung für Deutschland im doppelten Sinne gewesen – eine Befreiung vom Krieg und eine von den Nationalsozialisten. Es war der Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, der diese Deutung erstmals in einer großen Rede öffentlich 1985 zum Thema machte. „Erst der verlorene Krieg hat es ermöglicht, ein System des kollektiven Rassenwahns und industrialisierten Massenmords der Shoah zu beseitigen. Hinter diese Deutung dürfen wir nicht mehr
zurückfallen“, sagte Frank Meyer. Deutschland sei nach dem Zweiten Weltkrieg von den Befreiern die Chance geschenkt worden, noch einmal neu anzufangen. „Wir durften Teil der europäischen Familie werden. Dieses Europa bleibt unsere Zukunft.
Wir dürfen in unserem Land seit 80 Jahren in Frieden und Freiheit leben.“
Die Gegenwart zeige aber auf erschütternde Weise, wie brüchig Frieden sei, wie leicht daraus wieder Krieg werden könne, sagte Frank Meyer. „Die freiheitliche Demokratie europäischer Prägung wird zunehmend zum Ziel von Angriffen. Länder, die sich mit Freiheit und Demokratie identifizieren, werden zur Zielscheibe von Störaktionen. Es herrscht wieder Krieg in Europa. Russland hat 2022 einen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet und setzt ihn unerbittlich fort – entgegen aller öffentlichen Beteuerungen, nach einem Frieden zu streben.“ Auch unter dem
bleibenden Eindruck seiner eigenen Reise in der ukrainischen Partnerstadt Kropyvnytskyi betonte der Oberbürgermeister: „Solidarität bleibt unser
Grundprinzip. Sie ist kein Ausdruck von Schwäche, sondern von kollektiver Stärke. Es ist für den gesamten europäischen Kontinent existenziell, dass wir weiter an der Seite der Ukraine stehen und ihr vereint weiter eine Selbstverteidigung ermöglichen.“
Die Menschen dürften nicht den Versuchungen eines neuen Nationalismus und Rechtsextremismus erliegen, forderte der Oberbürgermeister. „Wir wissen aus der Geschichte unseres Landes, zu was Menschen fähig sind. Wir wissen, wozu Menschenhass und Rassismus führen können. Wir dürfen nicht dem Irrglauben verfallen, dass das Autoritäre auf Dauer bessere Lösungen liefert als der Diskurs in der Demokratie.“ Abschließend zitierte der Oberbürgermeister in seiner Rede den gegenwärtigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der vor fünf Jahren zum 75. Jahrestag des Kriegsendes über die europäische Gemeinschaft gesagt hatte: „Wenn Europa scheitert, scheitert auch das ,Nie wieder‘“.
Das Gedenken wurde organisiert von der NS-Dokumentationsstelle Villa Merländer. Viele Vertreter aus der Stadtgesellschaft, von den Kirchen, aus der Politik und Behörden nahmen daran teil. Mitgestaltet wurde das Gedenken unter anderem vom Chor des Gymnasiums Horkesgath, der gemeinsam mit dem Chor der Jüdischen Gemeinde das Lied „Sag nie, Du gehst den letzten Weg“ (Jiddisch: „Zog nit keynmol“) sang, das 1943 Hirsh Glick im Ghetto von Vilnius verfasst hatte.