„Kann ich das überhaupt verstehen?“, lautet vor Beginn die bange Frage manchen Zuschauers. Schließlich wurde die Schauspiel-Trilogie „Orestie“ 500 Jahre vor Christi Geburt geschrieben und wimmelt von griechischer Mythologie und Götterwelten.
Klare Antwort: Ja. Der Text ist entschlackt, die Übersetzung modern, die Rollenführung der Schauspieler eindeutig und die Story auf ihre Knackpunkte pointiert.
Zweite Frage: „Ist so ein uraltes Stück denn auch spannend“? Klare Antwort: Sogar hochspannend. Es knistert vor Spannung. Das liegt an den expressiven Szenerien auf der Bühne, die man noch lange nach der Vorstellung nicht aus dem Kopf bekommt:
Ein selbstgefälliger Agamemnon (Joachim Henschke) kehrt im verschwitzten Landser-Outfit siegreich aus dem Trojanischen Krieg zurück und schleppt auf seinen Schultern wie ein erlegtes Wild die geraubte Kassandra (Helen Wendt). An allen Gliedern gefesselt robbt sie verzweifelt wie ein Tier über den Boden. Beklemmung beim Zuschauer. Ihre Weissagung will niemand glauben: Der Sieger wird ermordet. Blutüberströmt liegt er denn bald auch im Grab, den Leib von einem Erdhügel überdeckt, nur Kopf und Füße ragen noch heraus. Zuvor hatte seine mörderische Ehefrau Klytaimestra (Eva Spott) ein so grausiges Triumphgeheul angestimmt, das dem Zuschauer der Atem stockt. Das muss sie im zweiten Teil bitter büßen, wenn Sohn Orest (Cornelius Gebert) ihr selbst das Beil an die Kehle hält.
„Alles umsonst“ heißt die Moral. Das Streben nach Sieg und Vergeltung erweist sich als sinnlos. Das hat sich auch nach 2500 Jahren nicht geändert.
Und die Götter? Der moderne Mensch darf sie sich als innere Stimmen in seiner Seele erschließen. Da sind die furchterregenden Rachegeister, die Orest wie wahnsinnige Zombies verfolgen. Modern gesprochen: sein schlechtes Gewissen.
Da gibt es aber auch die ausgleichende Göttin Athene (Ester Keil). Die Stimme der Vernunft. Sie beruft ein Gericht ein und markiert mit dieser Entscheidung den Übergang von Rache zum Recht.
Regisseur Matthias Gehrt hat den antiken Charakter des Stücks erhalten. Das zeigt sich an der puristischen Kulisse, die eine Palastfassade mit Eingang darstellt. Das zeigt sich aber auch an der liebevollen Ausgestaltung des antiken Sprechchores, der als Sammlung alter Männer auftritt. Wunderbar zu erleben, wie junge Schauspieler (Ronny Tomiska, Paul Steinbach, Bruno Winzen, Adrian Linke u.a.) auf Spazierstöcke gestützt die Beschwerden des Alters umsetzen. Wie überhaupt das Ensemble den Figuren Fleisch und Blut zu verleihen versteht.
Eine Spitzenleistung der Bühnenkunst: packend, spannend, hintergründig und verständlich. Krefeld braucht sich vor keinem Großstadttheater zu verstecken. Das begeisterte Premierenpublikum dankte mit langem Applaus.